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Der Ausgangspunkt. Nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg fanden auch andere Opfer den Mut, sich zu offenbaren. Foto: ddp

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Missbrauchsopfer: Aufwühlende Erinnerung - vor fünf Jahren

Vor fünf Jahren trafen sich ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs, die von ihren Lehrern missbraucht worden waren, mit Vertretern des Jesuitenordens. Beim "Eckigen Tisch" wurde auch über Entschädigung gesprochen. Was Claudia Keller darüber schrieb.

Sie haben Klassenfotos groß kopiert und an die Wand gehängt. Schlaksige Jugendliche aus den 70er Jahren sind darauf zu sehen. „Um zu begreifen, was sich damals abgespielt hat, müssen wir uns selbst immer wieder daran erinnern, dass wir Kinder waren und keine selbstbewussten Männer“, sagt Matthias Katsch und zeigt mit dem Finger auf sich, Foto links, dritte Reihe. Irre werden könnten sie sonst, die ehemaligen Schüler des Canisius-Kollegs, an der Frage, warum es damals passieren konnte, dass sich ihre Lehrer, Jesuitenpatres, an ihnen vergriffen haben. Warum haben sie nicht nein gesagt? Warum hat kein anderer für sie nein gesagt?

Weil sie diese Frage den Jesuitenpatres stellen wollten, von Angesicht zu Angesicht, nicht vermittelt durch die Anwältin Ursula Raue oder sonstwen, hatten ehemalige Schüler der vier deutschen Jesuitenkollegs am gestrigen Sonnabendnachmittag Jesuiten zu einem „Eckigen Tisch“ eingeladen. 30 ehemalige Schüler, vor allem Absolventen des Canisius-Kollegs waren gekommen und fünf Jesuitenpatres: Stefan Dartmann, der heutige Provinzial des Ordens, sein designierter Nachfolger Stefan Kiechle, Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs, und sein Kollege Johannes Siebner, der das Kolleg in St. Blasien leitet. Die ehemaligen Schüler hatten auch Patres eingeladen, die in den 70er und 80er Jahren Verantwortung in den Schulen und im Orden hatten, zu der Zeit, als sich die meisten bislang bekannt gewordenen Missbrauchsfälle zugetragen haben. Lediglich einer ist der Einladung gefolgt: Pater Rolf-Dietrich Pfahl, bis 1981 Rektor des Canisius-Kollegs und danach Provinzial des Ordens.

Auch Angehörige sind mitgekommen. Manche haben erst jetzt von dem Leid erfahren, das ihren Partnern und Kindern vor 30, 40 Jahren angetan wurde.

Fünf Stunden haben sie geredet, haben ihre Geschichten erzählt, gefragt, geweint, gewütet, gestritten. „Die Wucht der Gefühle war manchmal schier unerträglich“, sagt Robert Schulle am Abend danach. Er war von 1976 bis 1984 Schüler am Canisius-Kolleg. Manchmal sei die ganze Wut aus ihnen herausgeplatzt, manchmal sei es vor Anspannung ganz still gewesen in dem Raum im Hinterhof des Center Monbijou in Mitte. „Zuzuhören, die Aggressionen zu spüren, den Schmerz, die Verzweiflung, Auge in Auge zu sehen, was der Missbrauch in Biografien angerichtet hat, das tut weh“, sagte Provinzial Pater Dartmann danach. Moderiert hatte das Gespräch unter anderen Ex-Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer als Vertreterin der Opfer.

„Ich hatte mir von dem Gespräch so etwas wie die große Lösung meiner Probleme erhofft“, sagt Matthias Katsch am Abend. Etwa durch die Antworten von seinem früheren Schulrektor Pater Pfahl. Ja, dieser alte Mann habe seine Schuld eingestanden, sagt Katsch. Er habe zugegeben, den Brief nicht richtig eingeordnet zu haben, den Schüler des Canisius-Kollegs 1981 geschrieben und darin auf die Missstände hingewiesen hatten. Sie haben nie eine Antwort bekommen. „Sein Schuldeingeständnis erkenne ich an, trotzdem ist die Antwort unbefriedigend“, sagt Katsch. Er habe begriffen, dass er eine Lösung oder gar eine Erlösung durch solche Gespräche nicht bekommen werde. Trotzdem sei das Treffen sehr wichtig gewesen – und erst der Anfang. Er hofft, dass sie sich erneut zusammensetzen werden.

Es ging an dem Nachmittag auch um Hilfe für die Opfer und finanzielle Entschädigung. „Die Jesuiten sollen die Frage der Entschädigung nicht auf die lange Bank schieben und auf den Runden Tisch bei der Bundesregierung verweisen“, sagt Robert Schulle. „Sie könnten auch Vorreiter sein.“ Als „Provokation, die wir mit nach Hause nehmen“ bezeichnet Jesuitenchef Stefan Dartmann diese Forderung. Man werde darüber beraten. Auch er hofft, dass es zu einem zweiten Treffen kommt. Dann werde man vielleicht Konkreteres sagen können. „Wenn ich in Zeitungen Forderungen von 100 000 Euro pro Missbrauchsopfer gelesen habe, habe ich das immer abgelehnt“, sagt Pater Mertes. Aber jetzt habe er begriffen, dass es „über die Entschuldigung des Ordens hinaus ein Zeichen der Genugtuung geben muss“.

Zumindest darüber war man sich einig: Der Bericht, den die Berliner Anwältin Ursula Raue am Donnerstag vorgestellt hat, ist nicht der Abschluss der Ermittlungen. Raue war vom Orden mit der Aufklärung der Missbrauchsfälle beauftragt worden. Die Teilnehmer des „Eckigen Tisches“ trauen ihr nicht. Sie werfen ihr vor, potenzielle Opfergruppen aus den 50er und 90er Jahren nicht in den Blick genommen und Selbstmorde von ehemaligen Schülern nicht untersucht zu haben. Deshalb wird Andrea Fischer nun ein Zweitgutachten erstellen. Um die Vergehen im Bonner Aloisius-Kolleg aufzudecken, wird ein weiterer externer Ermittler eingesetzt.Claudia Keller

Der Beitrag erscheint in unserer Rubrik "Vor fünf Jahren".

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