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Berlin: Mit Delikatesse

Von Andreas Conrad Der 4. Dezember 1823 war für das Selbstbild des Berliners und vor allem das Bild, das sich der Rest der Welt von ihm macht, von überragender Bedeutung.

Von Andreas Conrad

Der 4. Dezember 1823 war für das Selbstbild des Berliners und vor allem das Bild, das sich der Rest der Welt von ihm macht, von überragender Bedeutung. Eckermann war bei Goethe zu Tisch geladen, und der beliebte ein Bonmot in die Welt zu setzen, aus der es nie wieder zu entfernen ist: Es lebe in Berlin „ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten“. Man kann dem Dichterfürsten nicht dankbar genug sein für diese Wunderworte, gerade als Berliner. Denn selbst mit Haaren auf den Zähnen ist es mitunter eine Herausforderung, die Contenance zu bewahren und nicht, zumindest verbal, Amok zu laufen. Da steht man also an einem halbwegs wolkenfreien Sonntagmorgen mit anderen Fahrgästen auf dem Bahnsteig der SBahnstation Botanischer Garten und harrt des nächsten Zuges. Ein kurzer wird es sein, das steht auf den Leuchttafeln. Nur einer schlendert in der Ferne hin und her, unbekümmert um Zuglänge und die tunlichst einzunehmende Wartestellung. Der Herr Stationsvorsteher steht bereits in Position, vorerst ohne Aufgabe, aber keine Sorge, schon hat er eine gefunden und raunzt, lautsprecherverstärkt, über den Bahnhof: „Det sind Kurzzüge, oder könnense dahinten nich lesen?“ Selbst wer gar nicht gemeint war, zuckt zusammen und schickt rasch ein Dankeschön gen Himmel: Erst durch Dich, oh Goethe, vermögen wir die Delikatesse solcher Momente wahrhaft zu genießen.

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