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Berlin: „Mit dem Ausschalten der Glotze allein ist noch nichts gewonnen“

Gut zwei Drittel der Berliner Schulanfänger in den Innenstadtbezirken haben Schwierigkeiten, sich ihrem Alter gemäß auszudrücken. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Schulsenator Klaus Böger in der vergangenen Woche vorgestellt hat.

Gut zwei Drittel der Berliner Schulanfänger in den Innenstadtbezirken haben Schwierigkeiten, sich ihrem Alter gemäß auszudrücken. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Schulsenator Klaus Böger in der vergangenen Woche vorgestellt hat. Einer der Gründe dafür ist, dass in vielen Familien die Kommunikation mit den Kindern nicht stimmt. Mit den Problemen Erziehung und Familien befasst sich der Arbeitskreis Neue Erziehung (ANE). Bekannt ist der Arbeitskreis vor allem durch die „Elternbriefe“, die alle Berliner Familien erhalten und die die Entwicklungsphasen der Kinder mit Tipps und Erklärungen begleiten. Über die Sprachlosigkeit in Familien sprach Sigrid Kneist mit Sabine Skutta, der Leiterin der Familienberatungsstelle des ANE.

Hat Sie das Ergebnis der Studie überrascht, dass so viele Kinder Sprachschwierigkeiten haben?

Die Tatsache an sich nicht, allenfalls die Anzahl. Wir erleben dies auch in der Beratung. Zu uns kommen viele Familien mit bikulturellem Hintergrund und vor allem auch Familien aus der Türkei oder arabischen Ländern. In den Gesprächen mit den Kindern geht es manchmal um Fragen, was in der Schule oder der Kita passiert. Da merkt man, wie schwer es ihnen oft fällt, etwas kompliziertere Abläufe und Situationen zu schildern.

Aber nicht nur ausländische Kinder sind davon betroffen, sondern auch ein hoher Prozentsatz deutscher Kinder?

Das ist ein Schichtphänomen, dazu gibt es schon seit den siebziger Jahre jede Menge Forschung. Je nach Bildungsschicht wird eine andere Sprache verwendet, die in ihrer Weise auch sehr differenziert ist, aber nicht der Sprache entspricht, die für die Schule und das kognitive Lernen erforderlich ist.

Ist die Sprachlosigkeit der Kinder auf den niederen Bildungsgrad und das geringere Bildungsinteresse der Eltern zurückzuführen?

Mangelndes Bildungsinteresse würde ich nicht sagen. Viele Eltern wollen gerade, dass ihre Kinder mehr erreichen als sie selber. Sie haben aber nur geringe Möglichkeiten, ihre eigene Bildung zu verbessern. Oft sind sie belastet durch Arbeit oder psychisch belastet durch Arbeitslosigkeit.

Jetzt wird viel über die Aufgaben der Kitas diskutiert. Müssten nicht zunächst die Eltern in die Pflicht genommen werden?

In die Pflicht nehmen ist eine schwierige Sache. Besser ist es, Eltern zu zeigen, dass es Spaß macht, mit Kindern zu sprechen, zu erzählen, mal Witze zu machen. Schon zu Beginn der Sprachentwicklung des Kindes ist es wichtig, erste Äußerungen der Kinder aufzugreifen und in einfachen Sätzen und in gutem Deutsch wiederzugeben.

Also keine Babysprache benutzen?

Nein, ganz normal sprechen. Dass man die Sprache etwas vereinfacht, das ergibt sich von alleine. Was man selber tut oder was das Kind erlebt, muss verbunden werden mit Sprache. Es darf also kein trockenes Sprachlernen werden, sondern das Kind soll damit Erfahrungen,Gefühle, ein Erlebnis oder eine Geschichte verbinden können.

In vielen Familien findet diese Kommunikation anscheinend nicht mehr statt, stattdessen kommt der Fernseher zum Einsatz.

Manche Eltern setzen ihre Kinder sogar in bester Absicht vor den Fernseher und denken, dass die Sprachentwicklung gefördert wird. Das ist ein Irrtum. Kinder lernen Sprechen durch Sprechen. Es hat auch damit zu tun, dass Eltern zu sehr belastet sind, dass Zeit zum Sprechen fehlt. Bei unseren Klienten in der Beratungsstelle sehen wir auch, dass Probleme - Arbeitslosigkeit, Ehe, Geld - den Eltern, der Familie und damit den Kindern die Sprache verschlagen können.

Muss man den Eltern auch mal sagen, jetzt macht mal die Glotze aus und kümmert euch?

Man muss eher zeigen, was sie stattdessen tun können. Nur die Glotze auszuschalten, dadurch ist noch gar nichts gewonnen. Anregungen dazu gibt es für die Eltern in den deutschsprachigen und in den türkisch-deutschsprachigen Elternbriefen des Arbeitskreises Neue Erziehung. Die Eltern bekommen dann nicht das Gefühl, dass noch eine Belastung auf sie zukommt, sondern dass es eine sehr schöne Sache sein kann, sich mit Kindern zu unterhalten.

Was sind gelungene Alternativen?

Es kommt ein bisschen auf das Alter der Kinder an. Tischspiele sind immer gut, man kommt dabei ins Sprechen. Man kann Bücher anschauen, lesen, mit Bauklötzen spielen, Rollenspiele machen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Bei all den Spielen, bei denen es um soziale Situationen geht, kommen Gespräche auf. Man kann Restaurant spielen oder Friseur oder Einkaufen, dafür braucht man noch nicht mal Spielzeug. Man kann auch die Mahlzeiten nutzen, die Hausarbeit oder das gemeinsame Spiel. Es müssen sich aber auch Gelegenheiten ergeben können. Also sollte man beim Autofahren eben nicht sofort das Radio andrehen. Aus Stille, die man im Raum zulässt, kann oft erst ein Gespräch entstehen. Und dabei ist es natürlich ganz wichtig, das Kind durch gutes Zuhören, und indem man auf es eingeht, zu ermutigen, sich zu äußern. Kritik und Korrekturen von Äußerungen lassen Kinder verstummen.

Viele Eltern sind wahrscheinlich gar nicht in der Lage, die Versäumnisse ihrer Kinder zu erkennen. Wie kann man helfen?

Da fängt auf jeden Fall die Aufgabe der Kita an. Dort muss erkannt werden, ob Kinder eingeschränkt sind in ihrer Ausdrucksfähigkeit und in ihrem Sprachschatz. Dagegen kann man angehen, indem viel mit den Kindern gesprochen wird. Alle Alltagssituationen können sprachlich begleitet werden. Man kann auch mit den Eltern zusammen überlegen, was diese in ihrer speziellen Lebenssituation leisten können. Es muss nicht immer eine Extra-Förderung sein. Bei gravierenden Sprachentwicklungsverzögerungen ist der Kinderarzt gefragt und eine Therapie nötig.

Wie kann man erkennen, dass Kinder Schwierigkeiten haben?

Am ehesten daran, dass sich die Kinder nicht altersgemäß verständlich machen können, dass man sie nicht versteht. Ab dem Alter von drei, vier Jahren sollte ein Kind eigentlich in der Lage sein, einigermaßen deutlich auszudrücken, was es will und was es meint. Ein Kind im Alter von fünf, sechs Jahren muss ganz gut in der Lage sein, Abläufe verständlich wiederzugeben.

Können eigentlich auch Unbeteiligte Kindern in ihren Alltagssituationen helfen?

Selbstverständlich kann jeder etwas tun. Beispielsweise im Geschäft: Wenn Kinder dort beim Einkaufen lediglich mit dem Wort „Kaugummi“ ihren Wunsch äußern, dann sollte man mit einem Satz antworten, „du möchtest also einen Kaugummi“, und beim Bezahlen „ich hätte dann gerne von dir fünfzig Cent“ fordern. Man sollte mit den Kindern ins Gespräch kommen und diese Sprachlosigkeit nicht mittragen.

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