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Berlin: Mit der Leiche im Lift

Ob in Flensburg oder Passau, wer in einem Otis-Fahrstuhl stecken bleibt, wird automatisch mit Berlin verbunden. Hier sitzt Simone Hertwig-Schumann in der Notrufzentrale des Fahrstuhlherstellers. Und redet mit den E.P.s

Von Thomas Loy

Ein Fahrstuhl, auf dem Weg von oben nach unten. Drinnen steht ein Bestatter nebst Leiche. Der Sarg passt eigentlich nicht hinein, deshalb hat sich der Deckel verschoben. Dann bleibt der Aufzug stehen und rührt sich nicht mehr, irgendwo zwischen oben und unten. Klingt nach Film, ist aber keiner. Der Bestatter und seine Leiche sind eingeschlossen. Und allein. Fast.

Woran sie sich erinnert? An ein langes Gespräch in der Nachtschicht. Eine Dreiviertelstunde bestimmt. Nach den Kindern habe sie gefragt. Dann erzählte er, dass schon Vater und Großvater in der Bestattungsbranche gewesen seien, dass er keinen anderen Ausbildungsplatz gefunden habe und dass er vielleicht gar nicht zum Bestatten geeignet sei. Bleicher als die Leiche habe er ausgesehen, sagte der Techniker, der den Eingeschlossenen später erlöste.

Jetzt kann Frau Hertwig-Schumann darüber lachen – na klar. Jetzt ist die Geschichte nur noch skurril, eine garantierte Partybereicherung, aber damals? Damals war gerade ihre beste Freundin verstorben. Noch so ein Zufall wie nach einem Drehbuch. Es wurde ein sehr persönliches Gespräch um Leben und Tod. Gute Nerven braucht man schon für diesen Job. Und Einfühlungsvermögen. Immer beruhigen, rät Frau Hertwig-Schumann. Und niemals sagen, dass man in einem klimatisierten Büro in Berlin sitzt, mit Blick aus dem Fenster und Abendhimmel. Nie sagen, man sei nur eine Stimme aus dem Off, die theoretisch in 20 000 Aufzügen in ganz Deutschland erklingen kann.

Simone Hertwig-Schumann ist der Schutzengel der Fahrstuhlfahrer und die Mitarbeiterin in der Notrufzentrale des Berliner Aufzugherstellers Otis, die hier am längsten dabei ist. Hier laufen alle Meldungen über Betriebsstörungen zusammen, von Flensburg bis Passau. Die roten Meldungen sind die wichtigsten: E.P. – Eingeschlossene Person.

Besonders viele E.P.s gibt es freitags wegen der Einkäufe und sonnabends wegen der Umzüge. Eine Risikozeit ist auch sonntags nach dem „Tatort“, wenn die Hunde nochmal auf die Straße müssen.

Heute ist Freitag, so gegen 20 Uhr 30. Eine Rotmeldung aus der Waldstraße in Offenbach. Frau Hertwig-Schumann tippt schnell ihr Kürzel in den Computer und nimmt den Hörer ab: „Hier ist die Otis-Notrufzentrale. Ist da jemand?“ Es scheppert ein wenig, dann meldet sich ein Hesse. Er ist aufgeregt. „Die Tür geht net auf.“ Der Schutzengel bittet, mal an der Tür zu rütteln oder auf einen anderen Etagenknopf zu drücken. „Geht net.“ Der Computer meldet: „Fehler in der Sicherheitskette". Da ist kaum was zu machen, weiß Frau Hertwig-Schumann. „So ein Fahrstuhl ist ja schlau“, und beim Thema Sicherheit lässt er nicht mit sich handeln. Sie verspricht, jemanden zur Rettung vorbeizuschicken und sich wieder zu melden.

Zur gleichen Zeit sitzen in der Mariannenstraße in Kreuzberg zwei Kinder fest.

Angst vorm Absturz

„Seid ihr wirklich eingeschlossen?“ –„Ja.“ Dann hört der Schutzengel nur noch türkisch. „Mit wem sprichst du denn da?"- „Mein Bruder.“ Der steht vor der Aufzugstür und traktiert das Material. Frau Hertwig-Schumann hört donnernde Schläge und verdreht die Augen. „Will der die Tür kaputtmachen oder macht er die auf?“ –„Aufmachen.“ Der Schutzengel ordert lieber Hilfe.

Da meldet sich schon wieder Offenbach. „Das ist ein komisches Gefühl.“ Dann eine andere Stimme, auch sehr nervös. „Kann es sein, dass der Aufzug abstürzt?“ –Der Engel beruhigt: „Nee, das passiert nur im Film". Das mit dem Abstürzen ist eine der häufigsten Fragen von E.P.s. Sehr oft kommt auch: Ich kriege keine Luft mehr. Typische Symptome von Klaustrophobie.

Anruf in der Mariannenstraße. „Konnte dein Bruder dir helfen?“ –„Nein. Schnell machen.“ –„Hast du Angst?“ –„Bisschen zu warm.“ –„Da kommt gleich jemand vorbei mit dem Auto. Brauchst keine Angst zu haben.“ Als der Mann mit dem Auto endlich da ist, sind die Kinder schon weg. Der Bruder hatte die Tür doch noch aufgebracht. Ein paar Minuten später sind auch die Hessen gerettet. Wenn der Techniker erstmal da ist, sind zur Gefangenenbefreiung nur ein paar Handgriffe im Maschinenraum erforderlich. Bis er da ist, kann aber eine gefühlte Ewigkeit vergehen. E.P.s werden von der Notfallseelsorge bisher sträflich vernachlässigt.

Psychologisch geschult sind die 35 Mitarbeiter der Otis-Zentrale nicht. Das Beruhigungs-Vokabular haben sie sich selbst beigebracht. Der Begriff „Monteur“ steht beispielsweise auf dem Index. „Klingt zu sehr nach Waschmaschine“, findet Frau Hertwig-Schumann. „Servicetechniker“ verheißt dagegen einen filigranen Eingriff zum Wohle des Menschen.

Nach ihrer Befreiung werden die E.P.s wieder ins Leben entlassen. Ob sie traumatisiert sind und sich eine schwere Fahrstuhl-Phobie eingefangen haben, weiß niemand. Früher hatten Eingeschlossene im Fahrstuhl noch nicht mal Kontakt zur Außenwelt. Ob der Alarmknopf irgendwas bewirkte, blieb bis zur Rettung ungewiss. Heute muss jeder Notruf zu einem Menschen führen, der sich kümmert. Ob der im Erdgeschoss am Empfang sitzt oder in einem Büro in Südafrika, ist dabei egal. Der Trend geht klar zur dauerhaft besetzten Notrufzentrale. Bei „Otisline“ werden monatlich 200 Aufzüge zugeschaltet.

Frau Hertwig-Schumann ist ein sehr kommunikativer Mensch und als solcher schon etwas traurig, wenn Notrufe ankommen, auf die sie nach Vorschrift dreimal in den Fahrstuhl spricht: Ist da jemand? Sind Sie eingeschlossen? Brauchen Sie Hilfe? – und niemand antwortet. Theoretisch könnte sie in jeden der 20 000 angeschlossenen Fahrstühle hineinrufen und fragen: Ist alles in Ordnung? Wie geht es Ihnen heute? Darf sie aber nicht. Da sind die Vorschriften sehr streng. Auch Kameras dürfen nicht installiert werden, obwohl sie viel mehr Sicherheit bringen würden. Der Schutzengel könnte schauen, ob tatsächlich jemand im Fahrstuhl steckt oder nur deswegen nicht antwortet, weil er ohnmächtig ist oder schwerhörig oder ein Hund ist, der von Herrchen allein in den Aufzug gesteckt wurde. Kommt auch vor. Und die E.P.s würden sehen, was für eine aufwühlend-extrovertierte Kosmetik ihr Schutzengel verwendet. Da ließe sich leicht ein ablenkendes Beruhigungsgespräch anknüpfen. Vielleicht gäbe es dann auch weniger Vandalismus, die häufigste Ursache für streikende Fahrstühle.

Übrigens ist der Bestatter-E.P. plus Leiche nicht der einzige Partyknaller, den Frau Hertwig-Schumann auf Lager hat. Da gibt es noch den Polizisten-E.P. plus Bankräuber, dem der Aufzug-Engel versprechen musste, erst die Verstärkung vom Revier abzuwarten, bevor der Techniker die Befreiung einleitet. Oder den Geschäftsmann-E.P., für den sie bei der Fluglinie anrief, damit seine Maschine ein paar Minuten wartet.

Leider klappte das nicht, weil die Dame von der Fluglinie den Aufzug-Engel für das „verrückte Telefon“ eines Radiosenders hielt. Oder die Frau aus Hamburg, die immer um die gleiche Nachtzeit im Fahrstuhl stecken blieb und den Techniker jedesmal mit Piccolo-Sekt empfing, um ihre Befreiung zu feiern. Frau Hertwig-Schumann wird irgendwann ein Buch schreiben mit dem fulminanten Titel: Es geschah im Fahrstuhl...

Das wird dann bestimmt verfilmt.

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