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Mit einem Schlag: Wenn der Partner zum Pflegefall wird

Sie lebt sein Leben. Erträgt seine Launen. Dreht ihn im Schlaf. Seit fünf Jahren ist Wolfgang S. ein Pflegefall. Seine Frau würde ihn nie in ein Heim geben. Auch wenn der Alltag sie oft an ihre Grenzen bringt.

Von Katrin Schulze

Sieben Stunden in der Woche hat sie für sich. Sieben Stunden jeden Dienstag. Sieben Stunden, in denen sie zur Ruhe kommen, sich erholen oder mal nur bummeln gehen sollte, sich etwas gönnen. Aber meistens lebt sie auch an ihrem Tag nur für ihn. Macht seine Termine, den Papierkram fürs Amt, den er nicht mehr erledigen kann, oder die Wäsche. Für sie bleibt keine Zeit mehr, seit ihr Ehemann vor fünf Jahren zum Pflegefall geworden ist. „Jeht ja auch nich’ anders, wa Bärli“, sagt sie und schaut ihn mit großen grünen Augen an.

Wolfgang und Susanne S. hatten andere Pläne. Ein freies, unbeschwertes Leben wollten sie führen und die Welt sehen, wenn sie einmal Rentner sind. Nun ist ihre Welt sehr klein geworden. Etwa 70 Quadratmeter.

So groß ist die Wohnung in Mariendorf, wo sie den Großteil ihrer Tage verbringen. Müssen. Die weite Welt hängt im Schlafzimmer, direkt vor ihren Augen, wenn sie abends in ihr ordentlich gemachtes Bett gehen. Drei Bilder nebeneinander: Strand, Meer, Himmel.

Wolfgang S. schaut jeden Morgen auf die eingerahmte Welt, als sähe er sie zum ersten Mal, und irgendwie ist es ja auch so. Vier Schlaganfälle haben sein Gedächtnis zerstört. Es war der Moment, den seine Frau als „Urknall“ bezeichnet, weil seither nichts mehr ist, wie es war. Weil seitdem nicht mehr ihr großer Wolfgang die Ansagen macht, sondern sie, die kleine Frau, die auf einmal alles allein zu verantworten und zu buckeln hat. Ihr Leben fing mit Mitte 50 komplett neu an, denn dass ihr Wolfgang im Heim alt wird, kam nicht in Frage.

Also umsorgt sie ihren Mann, so wie die allermeisten der zehn Millionen Deutschen es handhaben, die einen Angehörigen pflegen. Fast immer kümmern sich Frauen. Das hat das Allensbach Institut im Auftrag der R+V-Versicherung ermittelt. Durchschnittlich 61 Jahre alt sind sie und nicht berufstätig.

Susanne S. hatte einen Beruf, sie war Friseurin. Doch im vergangenen Jahr schmiss sie hin – und gab damit auch ihr letztes Stück Eigenständigkeit auf. „Man selbst hat nichts mehr“, sagt sie. „Aber man gewöhnt sich an alles.“ Das klingt bitterer, als sie es meint. Die 61-Jährige ist eine quirlige, anpackende Frau, die nicht fragt, warum es gerade ihren Mann getroffen hat, sondern nur, wie sie ihm am besten helfen kann.

Am Montagmorgen liegt Wolfgang S. im Streifenpullover und grauer Jeans unter einer Wolldecke auf der Couch. „Wat machen wa’n heute?“, fragt er.

Einkaufen gehen, Mittagessen, Spazierengehen, Fernsehen.

Zur Zweisamkeit gezwungen

Jeden Tag geht das so. Für Wolfgang S. macht es keinen Unterschied, ob Montag ist, Freitag oder Sonntag. Nur wann Dienstag ist, weiß er genau. Dienstag ist der Tag, an dem er zwischen 9 und 16 Uhr in ein Zentrum zur Tagespflege ganz in der Nähe kommt, obwohl er darauf nicht immer Lust hat. Ihm ist es am liebsten, wenn er in der gewohnten Umgebung ist. Wenn seine Frau sich um ihn kümmert. „Wat machen wa’n heute?“, fragt Wolfgang S. fünf Minuten später.

Einkaufen gehen. Aber was heißt schon gehen? Für Susanne S. ist es ein Kraftakt, ihn ausgehfertig zu machen, allein schon, weil er locker zwei Köpfe größer und doppelt so schwer ist wie sie. Meistens muss sie ihn irgendwie unterstützten, ihn stemmen oder hochhieven, denn für Wolfgang S. ist es mühsam, sich alleine auf den Beinen zu halten. Beim Waschen braucht er ihre Hilfe, und auch bei jedem einzelnen Toilettengang. Immer muss sie bei ihm sein.

Zweisamkeit bringt etwas Erfüllendes, Erhebendes mit sich, wenn beide Seiten es wollen. Susanne und Wolfgang S. jedoch sind dazu gezwungen. Oder wie sie es ausdrücken würde: „Uns gibt es nur noch im Doppelpack, wir sind wie das doppelte Lottchen.“ Susanne S. lebt das Leben ihres Mannes, aber sie verzweifelt daran nicht. Trotz allem. Nachdem sie mit ihm im Bad gewesen ist, zieht Susanne S. ihm Mütze, Schuhe und die Winterjacke an, sie reicht ihm den Stock und Wolfgang S. tippelt los. Schrittchen für Schrittchen. Nur kurze Wege schafft er, 68 Jahre alt, ohne Rollstuhl. Unter den vielen Dingen, die seine Frau über die Jahre lernen musste, zählt Geduld zu den wichtigsten.

Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis er mit seinen 112 Kilogramm sicher auf dem Beifahrersitz des Autos sitzt und Susanne S. den nächsten Supermarkt ansteuert. „Hoffentlich hat sich keiner auf den Behindertenparkplatz gestellt. Das passiert oft, nicht wahr, Bärchen“, sagt sie – ohne eine Antwort zu erwarten. Wort- und regungslos verharrt er auf dem Beifahrersitz und schaut nach draußen. Heute haben die beiden Glück, und Wolfgang S. hat gute Laune. Er möchte mit in den Laden. Der Einkaufswagen dient ihm als Stütze, während seine Frau durch die Gänge wuselt und im Eiltempo den Wochenendeinkauf in den Korb lädt.

Früher, also vor dem Urknall, da ging sie gerne und häufig einkaufen. Einfach so, ohne Plan und ohne Struktur. Heute steht alles, was sie braucht, auf einem kleinen Zettel. Wolfgang S. hält nicht mehr lange durch. Und es gibt immer Wichtigeres zu tun, als sich schicke Blusen zu kaufen. Meist steckt Susanne S. ihren schlanken Körper sowieso nur in Jeans und Pulli, schlicht sieht das aus, wie ihr kaum geschminktes Gesicht. „Wozu soll ich mich noch aufbrezeln?“

Susanne S. hat andere Sorgen, die meisten um ihren Mann. Dazu gehören die formalen Dinge, die in dieser Ehe früher in seinen Aufgabenbereich gefallen sind. Reparaturen, Finanzen, Behörden, Krankenkasse. Meist geht sie mit ihrem Mann persönlich vorbei, wenn irgendetwas eingereicht, beantragt oder geändert werden muss. Von Internet und Emails hat sie keine Ahnung, dafür kennt sich Susanne S. mittlerweile ziemlich gut aus in Sachen Gesundheit und Pflege.

Im offiziellen Wortlaut wird Wolfgang S. in der Kategorie „schwerpflegebedürftig“ geführt, Pflegestufe II. Das heißt, dass er bei allen grundlegenden Dingen des Lebens Hilfe benötigt. Sein Erinnerungsvermögen und die Orientierung hat er weitgehend verloren. Außerdem macht seine gesamte linke Körperhälfte nicht mehr richtig mit. Die kleine Einkaufstour hat ihm alle Kräfte abverlangt, jetzt sitzt er wieder auf der Couch.

„Wat machen wa’n heute?“

Rouladen.

Seine Launen sind ihre Launen, sein Leben ihres

Susanne S. wärmt sie vom Vortag auf. „Die isst du gerne, nicht wahr, Bärli?“ Ja, lautet die Antwort. „Nur schade, dass du nicht mehr so viel und gut essen kannst.“ Oft kriegt Wolfgang S. nach ein paar Bissen nichts mehr herunter. Susanne S. seufzt. Sie tut alles für ihn, und er kann es ihr kaum danken. Vor allem zu Beginn war das schwierig. Wenn er sie nicht erkannte, obwohl die beiden schon länger als 20 Jahre verheiratet sind. Jetzt wird er manchmal garstig, aggressiv sogar. Oder er wirkt völlig lustlos. Das macht ihr zu schaffen. Dann redet sie mit ihrer hellen Stimme auf ihn ein, und Wolfgang S. weigert sich trotzdem, seine Gymnastik zu machen.

In diesen Momenten bestimmt er immer noch, wo es langgeht. So hatte sie ihn kennengelernt, entschieden, energisch. Damals, als Wolfgang S. noch als Techniker in einem Warenhaus arbeitete und keine grauen Haare, sondern dunkle Locken und einen Schnauzbart trug. 23 Jahre später lebt sie sein Leben und seine Launen. Sie, die so gern fröhlich ist und stets einen flotten Spruch parat hat. Als Friseurin lernt man das.

Doch in Gesellschaft kommt sie kaum noch. Ab und zu sieht seine Tochter aus einer früheren Beziehung vorbei, und alle paar Monate trifft sie sich mit ihren ehemaligen Kolleginnen. An ihrem Job, den sie 45 Jahre lang ausübte, hing sie. Ihre rotblonden Haare frisiert sie bis heute zu einem akkuraten Kurzhaarschnitt. Viel Geld hat sie zwar nie verdient. Ihre Rente deckt nicht einmal die Miete für die Mariendorfer Wohnung. Aber ihr ganzes Leben schon wusste sie hauszuhalten, „sonst wäre das eine Katastrophe“. Die Anschaffungen für ihren Mann sind mitunter teuer, zuletzt brauchte er eine spezielle Matratze, damit er sich nicht wund liegt. Und zweimal im Jahr muss der Ausflug an die Ostsee drin sein. Als kurzer Ausbruch aus der kleinen Welt.

Ihre Wohnung ist der einzige Ort, an dem im Leben von Wolfgang und Susanne S. noch alles seine Ordnung hat. Susanne S. pflegt ihr Reich, es ist übersichtlich, ohne überflüssigen Kitsch. Auf dem Esstisch stehen frische Blumen, in den Regalen hat alles seinen Platz, ein paar Gläser, das Hochzeitsbild. 1984, Susanne S. im roten Kleid, Wolfgang im dunklen Anzug, beide lachen in die Kamera. „Kannst du dich daran noch erinnern“, fragt sie. „Nein“, antwortet er.

„Wat machen wa’n heute?“

Einen Nachmittagspaziergang.

Was, wenn ihr irgendwann mal etwas passiert?

Wieder geht sie mit ihm zur Toilette und steckt ihn danach in die Wintersachen. Doch diesmal muss sie zudem den Rollstuhl aus dem Keller holen. Gute 25 Kilogramm wuchtet sie die Treppe ins Erdgeschoss hinauf und später wieder herunter. Kein Wunder, dass Susanne S. es mittlerweile im Kreuz hat. Das ist okay für sie, solange es nur nicht schlimmer wird. Denn das ist ihre größte Angst. Dass sie selbst einmal von anderen abhängig wird, ein Pflegefall. Sie weiß ja ganz genau, wie es läuft. Jahrelang hat sie ihre Mutter gepflegt, teils neben ihrer Arbeit, eine Zeitlang hat sie auch gearbeitet und nebenher beide umsorgt: Mutter und Mann. Bis es mit der Mutter zu Ende war. Aber was, wenn es irgendwann sie treffen sollte? Wer ist dann da? Und wer wird ihn betreuen?

„Um Gottes Willen. Ich hoffe, mir bleibt so etwas erspart“, sagt sie nur. Sie hat ja keinen, der sie umsorgen könnte. Sie mag gar nicht daran denken.

Dabei kommt es oft so vor: Die Frauen bleiben zurück, allein, verwitwet. Viel öfter als Männer enden sie im Heim. Dort, wo Susanne S. ihren Mann unter keinen Umständen hinbringen möchte, weil sie am Ende bei ihrer Mutter beobachtete, wie furchtbar es zugehen kann in solchen Einrichtungen. Dass man unter Umständen auch mal drei Tage in Folge nicht gewaschen wird.

„Geh’n wa?“, fragt Wolfgang S., der inzwischen im Rollstuhl sitzt. Seit einer Weile hat der einen motorischen Antrieb, weil es sonst für Susanne S. noch schwerer wäre. Mit den unebenen Bürgersteigen Berlins quält sie sich schon genug, immer wieder muss sie gegensteuern und anhalten, manchmal flucht sie.

An schlechten Tagen denkt sie darüber nach wie ihr Leben wohl ohne den Urknall jetzt aussehen würde. Wahrscheinlich wären sie mit den Rädern oft ins Grüne gefahren, aktiv waren sie ja schon immer. Jetzt gehen sie freitags in die Schwimmhalle, wo sie mit ihm Gymnastik macht. Im Sommer fahren sie zuweilen in den Garten nach Teltow, aber sie weiß nicht, wie lange sie den noch wird halten können. Zu aufwendig.

Es fängt an zu tröpfeln, und Wolfgang S. friert trotz der Wolldecke auf seinem Schoß. Er will zurück.

„Wat machen wa’n heute?“

Das Fernsehprogramm ist ihm meistens zu hektisch, er kann kaum folgen. Trotzdem läuft das Gerät beinahe jeden Abend. Vorbei die geselligen Zeiten, in denen Gastgeber Wolfgang S. gute Stimmung verbreitete. Sie bekommen keinen Besuch mehr. Ihre Freunde können nicht mit dem Schicksal umgehen. Oder sie wohnen zu weit weg. Und Wolfgang S. wird auch schnell alles zu viel.

Er geht früh schlafen. Susanne S. geht mit. „Geht ja auch gar nich’ anders, wa Bärli?“ Falls er mal muss, steht eine Bettpfanne parat. Nebenan auf dem Nachtisch liegt Wolfgangs Atemmaske, die er braucht, damit er im Schlaf genug Luft bekommt. Susanne S. passt auf, dass er sie aufbehält. Außerdem wendet sie ihn immer mal wieder, wie einen Mehlsack. Er kann es ja nicht allein. Wann sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hat, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. „Das muss vor dem Ganzen gewesen sein.“ Vor dem Urknall.

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