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Berlin: Mit Freischütz eingedeutscht

Gefühlte Integration bei einer Einbürgerungsfeier

Gürkan Gülmen fährt ein Schreck in die Glieder. „Die deutsche Nationalhymne sollen wir singen?“ Darauf ist der 30-jährige Einzelhandelskaufmann nicht vorbereitet. „Die türkische kann ich auch nicht.“ Gürkan Gülmen ist, was Hymnen angeht, ein typischer Deutscher. Auch sonst fühlt er sich heimisch hier, trägt eine struppige Gelfrisur und freut sich, wenn man ihn für einen Griechen oder Italiener hält. Vor 29 Jahren kam Gülmen nach Deutschland. Vor kurzem hat er sich einbürgern lassen, weil er arbeitslos ist und hofft, als deutscher Staatsbürger schneller einen Job zu bekommen. Jetzt singt er mit rund 100 anderen Neu-Deutschen die Nationalhymne – auf der Einbürgerungsfeier im Rathaus Wilmersdorf.

Integration ist ein Prozess, der im Kopf beginnt und bei den Gefühlen endet. Deshalb hat der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, gefordert, die deutsche Staatsbürgerschaft „in einem würdevollen Rahmen“ zu verleihen. In Charlottenburg- Wilmersdorf macht man das seit drei Jahren. Von den jährlich 1000 Neubürgern im Bezirk folgen rund 40 Prozent der Einladung. In Spandau, Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg gibt es ähnliche Feiern. In Neukölln verzichtet man auf eine gemeinsame Zeremonie. „Es gibt bei uns viele Spannungen unter den Ausländergruppen“, sagt Torsten Vogel, Leiter der Bürgerdienste.

Im BVV-Saal des Wilmersdorfer Rathauses reichen die weißen Tischdecken nicht bis zum Rand, aber das stört niemanden. Zur Dekoration gibt es Topfblumen und schwimmende Kerzen. Salzstangen im Glas stehen bereit, dazu Wein und Säfte. Der Gastgeber ist arm, das sieht man, aber er hat sich Mühe gemacht.

Gürkan Gülmen findet die Zeremonie gut. Selbst mit dem Hornbläser-Quartett, das getragene Werke aus „Freischütz“ und „Tannhäuser“ intoniert, ist er einverstanden. Bürgermeisterin Monika Thiemen spricht in überdeutlicher Betonung der Endsilben – damit es wirklich alle verstehen – von den ersten Charlottenburgern, den königlichen „Kammertürken“ Ali und Hassan. Ausländer hätten den Bezirk zu jeder Zeit kulturell befruchtet. Sie argumentiert gegen den Begriff deutsche Leitkultur, fordert aber eine klare Abgrenzung zu Hasspredigern und Gewalt. Und sie zitiert einen schönen Satz der türkischstämmigen Kleist-Preisträgerin Emine Özdamar: „Berlin ist aus Sehnsucht gebaut.“

Bezirkspolitiker haben sich an die Tische verteilt, damit die Neudeutschen gleich ihre Sorgen loswerden können. Aber davon bekommen sie heute wenig zu hören. Stadtrat Joachim Krüger unterhält sich mit einer Wissenschaftlerin aus England über die frühkindliche Sprachentwicklung. Ihr Mann, Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, schließt gerade sein Maschinenbaustudium ab. Er fühlt sich durch das Angebot zur Einbürgerung und die Feier „geehrt“. „Es kommt auf das Gefühl an“, sagt eine Biologin aus dem Iran. Heute fühle sie sich als Teil der deutschen Gesellschaft, im Alltag sei das nicht immer so. Kassahun Mekonnen, Taxifahrer aus Äthiopien, kennt viele rassistische Sprüche. „Man muss kämpfen. Es kommt auf die eigene Moral an.“

Der grüne Politiker Özcan Mutlu erinnert sich an seine eigene Einbürgerung: „Die Urkunde bekam ich wie eine Wohngeldbescheinigung. Ich war total enttäuscht. Für viele Türken ist das ein gewaltiger Akt. Das muss gewürdigt werden.“

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