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Fahrendes Fahrrad.

© Carsten Rehder/dpa

Mobile Werkstatt: Der fahrende Fahrrad-Doktor von Berlin

Ullrich Christ radelt mit seiner mobilen Werkstatt quer durch Berlin – immer im Einsatz für spontane Reparaturen.

Der Fahrraddoktor brettert den Berg hoch. Tritt um Tritt um Tritt. Kraftvoll, schnell und ohne zu keuchen. Das zusätzliche Gewicht der Werkzeugkisten, die da an seinem Fahrrad hängen, merkt er gar nicht. Auch nicht sein Alter: 58. Auch nicht die filterlosen Zigaretten, die er sich den ganzen Tag über dreht, zwischen die Lippen steckt und anzündet. Oben angekommen sagt er: „Von morgens bis abends bin ich mit dem schweren Zeugs in Berlin unterwegs. Hin und her. Rauf und runter. Das hält fit. In ein Auto kriegt man mich nicht mehr rein.“

Gestatten: Ullrich Christ, Berliner Original und Zweiradmechaniker der besonderen Art. Er trägt eine große Ballonmütze auf dem Kopf, darunter steckt sein wildes weißes Haar. Seine Geschäftsidee: Mit seiner Ein-Mann-Werkstatt kommt er dahin, wo das kaputte Fahrrad ist. Nach Hause, an den Arbeitsplatz, an die Kreuzung. Dahinter steckt seine eigene Philosophie: Für Christ ist ein Fahrrad nicht einfach nur ein Fahrrad. Es hat eine Seele, einen Charakter, will geliebt und umsorgt werden. Fahrradfahren sei viel mehr als nur eine schnellere Form der Fortbewegung. Es sage etwas darüber aus, wer wir sind und wie wir leben wollen. Kurz gesagt: Für Ullrich Christ geht es beim Fahrrad und mit seiner mobilen Werkstatt ums große Ganze, um die Welt, wie wir in ihr leben wollen und wie man sie retten kann.

„34.000 Kilometer bin ich damit schon gefahren“

Aber fangen wir bei dem Kleinen an. Bei der Routine. Start in den Arbeitstag, morgens, zehn Uhr. Nicht zu früh, nicht zu spät. Christ kommt aus seinen Lagerräumen in Neukölln. Mit der einen Hand schiebt er das Fahrrad auf den Hof. Zwischen den Fingern der anderen steckt eine Zigarette. Ab in das Großstadtgetöse. Viel zu tun heute. Fünf Kunden. Einer davon ein Großauftrag. Mit dem Fahrrad geht’s zur S-Bahn, mit dieser zum S-Bahnhof Halensee, von dort zum ersten Einsatz. Ein Arbeitsplatzbesuch. Eine Kundin, die ausschließlich mit ihrem Fahrrad unterwegs ist, sie fährt jeden Tag damit zur Arbeit. 30 Minuten hin. 30 Minuten zurück. Urlaub? Mit dem Fahrrad. Umgestiegen, so nennen sie das, wenn jemand komplett aufs Auto verzichtet. „34.000 Kilometer bin ich damit schon gefahren“, sagt sie, „mit dem davor waren es sogar noch mehr.“

Sie erklärt Christ, was passiert ist. Gestern, schon dunkel, ist sie in einen Tunnel gebraust, zur Seite weggerutscht. Zum Glück gab’s dafür nur blaue Flecken. Doch jetzt soll Christ schauen, ob eine Acht im Vorderrad ist, ob die Bremsen und der Lenker noch in Ordnung sind. Außerdem muss er die Kette austauschen. Dann ist sie weg. Zurück am Schreibtisch. Während sie drinnen am Computer sitzt, macht sich Christ an die Arbeit. Ruhig. Gelassen. Mit der Kippe im Mund. Prüft. Wackelt. Tauscht aus. Zieht fest.

Der Personal-Bike-Manager

Er kennt ihr Fahrrad genau, denn er hat es mit ihr ausgesucht. „Ich bin ihr Personal-Bike-Manager“, sagt er und lacht über diesen englischen Ausdruck. Doch eigentlich mag er das. Seine Kunden länger kennen. Von ihren Abenteuern und ihren Fahrradgeschichten hören. Mitbekommen, wie das Fahrrad ihr Leben verändert.

Besonderen Spaß macht es ihm, wenn er einem Kunden beim Kauf helfen kann. „Das Fahrrad muss zu den eigenen Bedürfnissen passen“, sagt er. Soll es schnell sein? Oder solide für den Stadtverkehr. Oder eher ein gemütliches? Soll es in die Berge gehen oder doch lieber auf die ganz langen Strecken? Für jede dieser Möglichkeiten gibt es ein anderes Fahrrad. „Am allerwichtigsten ist es aber, dass der Rahmen genau zum Körper passt“, sagt er. Sein erstes gutes Fahrrad mit maßgeschneidertem Rahmen war für ihn eine Offenbarung. „Das war wie Fliegen. Alles lief wie Butter. Keine Schmerzen mehr. Nichts eingeschlafen. Nicht die Hände. Nicht der Schritt.“ 30 Jahre ist das jetzt her.

Fahrender Fahrraddoktor. In seiner mobilen Werkstatt hat Ullrich Christ alles, was er für Reparaturen braucht.
Fahrender Fahrraddoktor. In seiner mobilen Werkstatt hat Ullrich Christ alles, was er für Reparaturen braucht.

© Thilo Rückeis

Ullrich Christ hat in Fahrradläden gearbeitet, in kleinen und in großen, viele Jahre lang. Irgendwann hatte er genug. Fahrräder von der Stange, die nur noch ausgepackt werden müssen. Zeitvorgaben vom Chef für Reparaturen. Die Folge: Fehler und schlampig ausgeführte Arbeit. Heute kann er sich die Zeit nehmen, die er braucht. Circa 500 Kunden hat er in seiner Kartei, die meisten sind Stammkunden. Es kommen aber immer wieder Notfälle hinzu. Das Wichtigste ist: gewappnet sein und das richtige Material dabeihaben. Deswegen lässt er sich vorher Bilder vom Fahrrad und den kaputten Teilen per WhatsApp schicken. „Das wäre peinlich: Ich bin vor Ort und habe nicht das passende Teil dabei“, sagt er. Einmal hat ihn ein Fernsehsender getestet, mit versteckter Kamera. Neun Fehler hat er gefunden, einen mehr, als die Fernsehleute eingebaut hatten. Der Prüfer war beeindruckt. Die anderen Fahrradläden schnitten schlechter ab.

Das Fahrrad als Verlängerung des Menschen

Fertig. Christ fährt eine Proberunde. Alles in Ordnung. Das Werkzeug kommt wieder an seinen Platz in den Kisten, die Ersatzteile in die Tasche. Die Kundin ist zufrieden. „Die Rechnung wie immer per Mail?“, fragt sie. Wer Christ bestellt, zahlt eine Anfahrtspauschale von 20 Euro. Alle anderen Leistungen werden detailliert auf seiner Webseite angegeben. Transparenz statt Mauschelei, das ist ihm wichtig. Bremsbeläge wechseln und einstellen veranschlagt er mit 16 Euro zuzüglich Materialkosten. Einen platten Reifen flicken kostet zwölf Euro. Insgesamt rechnet er mit einem Stundenlohn von 72 Euro für sein Handwerk.

Weiter geht’s. Nun zur Firmenzentrale von Ebay. Mit denen hat er einen Wartungsvertrag für die Mitarbeiterfahrräder. Zweimal im Jahr kommt er vorbei, prüft, repariert und macht die fünf Fahrräder wieder fit. Firmenkunden, aber auch radfahrende Familien haben solche Verträge mit ihm abgeschlossen. Die Fahrt zum Online-Secondhandhändler führt durch den Wald. In den Blättern fängt sich warmer Sonnenschein. Christ genießt die frische Luft und die Bewegung. „Ein Fahrrad ist für mich die Verlängerung des Menschen. Wie Laufen. Nur besser“, sagt er. Man glaubt ihm sofort: Jedem Fahrrad nähert er sich sehr respektvoll, wie einem Tier, dem man erst mal die Hand zum Schnuppern hinhalten muss. Alte Teile schmeißt er nur weg, wenn sie wirklich kaputt sind, ansonsten repariert er sie akribisch. Bei Ebay ölt er, putzt, kontrolliert den Verschleiß, misst den richtigen Abstand bei den Ketten. Eine neue Kette hat 119,5 Millimeter Abstand zwischen elf Nieten. Ab 121,5 Millimeter ist sie ausgeleiert und müsste ausgetauscht werden.

Christ hätte gerne Unterstützung

Mit 20 kam Christ nach Berlin. Machte Station in der Hausbesetzerszene, studierte, arbeitete als Fahrradkurier, machte eine Ausbildung als Zweiradmechaniker, arbeitete in Werkstätten, heute hat er sogar eine Ausbildungsberechtigung. Gerne hätte er auch jemanden, der ihn bei seiner Arbeit unterstützt, einen Lehrling vielleicht, aber er findet einfach niemanden, der geeignet ist. „Also wurschtele ich alleine weiter“, sagt er. Manchmal möchte er alles hinschmeißen, wenn ihn all die Koordiniererei, der jährliche Kampf mit dem Finanzamt und der Gedanke an die fehlende Rente überfordert. „Aber dann mach ich ja doch weiter“, sagt er.

Ebay geschafft, nun geht’s zu einer Familie. „Ich mag das, bei den Menschen sein, ihnen helfen und ihre Dankbarkeit spüren.“ Am liebsten hat er die Alltagsradler, also diejenigen, die jeden Tag Fahrrad fahren. Die schätzen seine Arbeit am meisten. Wissen, dass Dinge verschleißen, dass Qualität ihren Preis hat. Wen er nicht mag, das sind Fahrradfreaks, die sich mit jeder technischen Einzelheit für ihr Rennrad beschäftigen, die alles besser wissen und lieber in Foren im Internet über die kleinsten Vor- und Nachteile streiten, als Fahrrad zu fahren. „Und Pfennigfuchser, die versuchen, mich runterzuhandeln, wenn ich mit der Arbeit schon fertig bin. Die mag ich auch nicht“, sagt er. Christ kann auch E-Bikes reparieren, hat die Fortbildungskurse dafür gemacht, sich die entsprechende Auslese- und Diagnose-Software zugelegt. „Ein E-Bike ist kein Fahrrad mehr“, sagt er. „Aber besser als ein Auto. Also mach ich’s.“

Christ hat heute noch drei Stationen vor sich. Wenn er dann zu Hause angekommen ist, muss er noch die verbrauchten Ersatzteile wieder auffüllen und die Rechnungen schreiben. Dann wird er sich eine Zigarette drehen, die Füße hochlegen und Fahrrad Fahrrad sein lassen. Zumindest bis zum Morgen. Dann rollt seine Ein-Mann-Werkstatt weiter.

Der Text stammt aus dem neuen Magazin "Tagesspiegel Radfahren 2018/19". Es kostet 9,80 Euro und ist erhältlich am Kiosk und im Tagesspiegel-Shop.

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