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Berlin: Monika Nickelmann (Geb. 1938)

Mit dem letzten Zug aufs Abstellgleis, mit dem ersten dann nach Hause

Eine Herdprämie? Geld dafür, dass Frauen zu Hause bleiben, nur um sich um die Kinder zu kümmern? Monika Nickelmann hätte vor Verblüffung vermutlich nicht einmal gelacht.

Nahezu ihr gesamtes Leben lang hat sie gearbeitet. Arbeit, das hieß zunächst keineswegs, jeden Tag froh eine interessante und gut bezahlte Tätigkeit zu verrichten. Arbeit hieß, als junges Mädchen nach Süddeutschland gehen, um ein paar Mark in einer Strumpffabrik zu verdienen, hieß, in Berlin an den Bändern von Siemens oder in Zigarettenfabriken die immer gleichen Handbewegungen verrichten, hieß erschöpft sein und trotzdem vier Kinder großziehen.

Sie wollte Schneiderin werden, brach die Lehre jedoch ab, da sie öfter mit dem Hund der Chefin spazieren gehen musste als Nadel und Faden in Händen zu halten. Erst 1973, mit 35, erlernte sie einen sogenannten richtigen Beruf: U-Bahn-Fahrerin. Zunächst saß sie in einem Häuschen und verkaufte Fahrkarten, stand dann als Zugabfertigerin auf dem Bahnsteig, bevor sie zum ersten Mal die U 1 fahren durfte.

Heiligabend war sie unterwegs und während der Ferien, arbeitete in aller Herrgottsfrühe und spät am Abend. Am Ende einer Nachtschicht brachte sie den letzten Zug aufs Abstellgleis des Bahnhofs „Olympia-Stadion“, kam ohne Weiteres jedoch nicht zurück nach Hause, ein Auto besaß sie nicht und die Bahn fuhr eben nicht mehr. Also baute sie zusammen mit den Kollegen einen Grill zwischen den Gleisen auf, wärmte sich, aß ein paar Würstchen und schaute in den Charlottenburger Sternenhimmel. Mit dem ersten Zug ging es dann nach Hause.

Wenn alle Leute im morgendlichen Berufsverkehr am Bahnhof „Onkel Toms Hütte“ bereits im Zug saßen, fuhr sie trotz allem nicht los, schloss die Türen erst, nachdem ihr die Treppen hinabhastender Schwiegersohn, der in der Gegend wohnte, sie gegrüßt hatte und ins Abteil gesprungen war. Rollte der Zug über die Hochbahntrassen von Kreuzberg, schaute sie aus ihrem Fahrkabinenfenster hinein in die Wohnungen, sah die Tapeten und Lampen und Sofas und entdeckte, dass sich die Familie in dem Haus an der Skalitzer, vierter Stock links eine neue Schrankwand angeschafft hatte. Sie sah die Hausbesetzer mit ihren Transparenten kommen und wieder gehen.

Sie musste ihre Arbeit für einige Wochen unterbrechen. Ein Mensch, einen Schatten nur von ihm nahm sie in letzter Sekunde wahr, sprang im dunklen Schacht vor den Zug. Psychologen halfen ihr. Allzu gründlich aber wollte sie nicht über das Geschehene nachdenken, schnell setzte sie sich von Neuem hinters Steuerpult, sonst hätte sie es vielleicht nie wieder gewagt.

Am Ersten jedes Monats lud sie ihre Kinder zum Essen ein, bei Quelle in der Wilmersdorfer oder bei Bilka am Zoo, nichts Großes, doch ein kleines Fest jedes Mal bei Pommes, Currywurst und Brause. Für ihre Kinder verzichtete sie auf Eigenes, lebte ihnen vor, was wichtig ist im Leben, Selbstständigkeit und Bescheidenheit. Nie schaute sie hochmütig auf andere Menschen herab, konnte nicht verstehen, dass Leute über Jahre und Jahrzehnte einander Feind sind.

Unkompliziert ging es bei ihnen zu, auch in komplizierten Zeiten, auch wenn Monikas Männer nicht immer hilfreich waren, jede Mark drei Mal umgedreht werden musste. Aber stolz war sie, mit 50 endlich ihren Führerschein gemacht zu haben, darauf, dass es alle ihre Kinder zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben. Sie verreiste mit ihnen und ging tanzen und sprach auch über den Tod, als noch lange keine Rede von ihm war. „Ich wünsche mir eine lustige Beerdigung“, sagte sie. Niemand dürfe in Schwarz erscheinen und der „Schneewalzer“ solle gespielt werden.

Alle kamen bunt gekleidet, ihr Schwiegersohn spielte auf dem Akkordeon. An ihre Grabstelle, mitten im Wald, haben ihre Kinder eine Bank aus ihrem Garten gestellt. Dort sitzen sie und essen manchmal und sprechen, miteinander und auch mit ihrer Mutter. Tatjana Wulfert

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