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Berlin: Monotonie als Inspiration

Auf der Suche nach künstlerischen Ideen haben sich 45 Kreative aus aller Welt in einem leer stehenden Plattenbau in Hellersdorf einquartiert

Von Steffi Bey

Hellersdorf. Das elfgeschossige Hochhaus an der Hellersdorfer Straße in Berlin wirkt mit seinen kleinen Fenstern und normierten Wohneinheiten genauso monoton wie der gegenüberliegende Plattenbau. Beide wurden kurz vor der Wende fertig gestellt, als kaum noch jemand in die einst begehrten Bauten einziehen wollte. Das Hellersdorfer Bezirksamt nutzte eines der Gebäude als Rathaus. Fast fünf Jahre lang stand das Hochhaus mit der Hausnummer 173 leer. Erst jetzt wird der vor 13 Jahren errichtete Plattenbau erstmals als Wohnhaus genutzt. Noch bis Ende August residieren auf rund 4000 Quadratmetern 45 junge Designer, Künstler und Architekten aus aller Welt. Sie kommen aus Deutschland, Norwegen, Holland, Spanien, Griechenland und Polen und wollen herausfinden, wie es sich im Plattenbau leben und kreativ sein lässt. Vielleicht sind die Anfang 20- bis Ende 30-Jährigen die letzten Bewohner des Hauses. Denn was nach dem Kunst- und Wohnprojekt aus dem Plattenbau wird, ist offen.

Initiiert wurde die Aktion unter dem sperrigen russischen Wort „dostoprimetschatjelnosti“ – zu deutsch: Sehenswürdigkeiten – von Axel Watzke, Steffen Schumann und Christian Lagé von der Kunsthochschule Weißensee. Im Treppenhaus hängen bunte Anschläge, Rohre wurden mit Farbe bepinselt und Türen mit Fotos verschönt. Es gibt Zimmer zum Arbeiten und Zimmer zum Schlafen, eine Gemeinschaftsküche, eine Ausstellungsetage, einen Theaterraum und eine kleine Bar. Die angehenden Künstler suchen nach Ideen für neue Projekte. Doch so mancher hat von seinem anfänglichen Enthusiasmus einiges eingebüßt.

Als Jakob hier Ende Mai mit Schlafsack und Luftmatratze einzog, war er erst einmal schockiert. „Hier sah jedes Zimmer gleich aus“, sagt er. Überall hing die gleiche beige Blumentapete an den Wänden. Tagsüber probt der 23-jährige Student in der elften Etage zusammen mit der Theatergruppe ein Stück ein. Es spielt in Hellersdorf und basiert auf Interviews mit Einwohnern am östlichen Stadtrand. So richtig angekommen fühlt sich Jakob aber immer noch nicht. Hier sei es wie auf einer Insel, sagt er.

Jakob Diehl, der an der Universität der Künste Komposition studiert, hat es sich inzwischen abgewöhnt, seinen Tagesablauf zu planen. „Das bringt nichts, weil viel zu viel Unvorhergesehenes passiert“, sagt er. Er trifft Leute im Treppenhaus, kommt mit ihnen ins Gespräch oder schaut sich die Arbeiten der anderen Künstler an. In den vergangenen drei Wochen kam er, wenn überhaupt, nur nachts zum Komponieren.

Die Anwohner, die per Handzettel zum Erfahrungsaustausch animiert werden sollen, reagieren größtenteils uninteressiert bis verärgert auf die neuen Nachbarn. „Die Mentalität ist hier nicht so, dass man rüberkommt und fragt, sondern die Polizei holt und vom Balkon aus zusieht, was passiert“, sagt Steffen Schumann. Das sei auch ein strukturelles Problem. „Es gibt zum Beispiel keine klassischen Spaziergänger. Offener Raum wird ganz schnell durchquert, um wieder in einen geschlossenen Raum zu kommen.“ Die Fotografin Britta Bergersen aus Norwegen ist trotzdem begeistert vom Plattenbau-Domizil. „Ich liebe dieses Haus. Ich bin am ersten Morgen hier aufgewacht und habe mich Zuhause gefühlt.“

Ein bestimmtes Thema ist den Künstlern nicht vorgegeben. „Aber wenn man aus dem Fenster sieht, ist das Problem ja da“, sagt Axel Watzke. Die Herausforderung ergibt sich da von selbst: „Wir wollen die Kommunikationsstrukturen knacken, die dieses Haus vorgibt“, erklärt Schumann. „Innerhalb des Hauses haben wir das perfekt gelöst.“ Intensiver Austausch und konzentriertes Arbeiten wechselten sich ab. „Man kann sagen, dass hier momentan eine Atmosphäre herrscht, die man sich für manche Kunsthochschule wünschen würde“, sagt er.

Ähnlich empfindet es Tammo Winkler. Der Malereistudent wohnt normalerweise in Prenzlauer Berg und dachte am Anfang, dass das Projekt für diejenigen schwieriger sei, die von weit her kommen. Doch jetzt stellt der 24-Jährige fest, es ist genau umgekehrt: Denn seine Altbauwohnung sei so nah, der Gedanke, dort die Nacht zu verbringen, so verlockend. Inzwischen hat er die ersten Arbeiten fertig gestellt, einige Collagen mit rosarotem Himmel, im Vordergrund kantige Figuren, deren Umrisse Plattenbauten ähneln. Im Moment hat Tammo aber Sehnsucht nach Dingen, die er sonst im Sommer macht: Verreisen, am Strand liegen, träumen. Deshalb überwiegen in seinem Plattenbau-Atelier Bilder mit Meeresblick und Strandkörben. Aber auch im Neubauviertel bieten sich dem Künstler ungeahnte Aussichten. Beeindruckt ist Tammo Winkler „von so viel Himmel“, den er in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg sonst nicht zu sehen bekommt. „Der Sonnenuntergang ist herrlich.“

Das Kunstprojekt „dostoprimetschatjelnosti“ ist Bestandteil der „Schaustelle Berlin“. Am 31. August soll die Ausstellungseröffnung stattfinden. Im Haus an der Hellersdorfer Straße 173 sind Besucher willkommen.

Weitere Informationen im Internet: http://www.anschlaege.de

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