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Mord an Steuerberater in Berlin-Westend: Indizien sind da, doch die Beweise fehlen

Neun Schüsse am helllichten Tag, ein toter Notar in seiner Kanzlei, zwei junge Söhne unter Verdacht. Der Mord in Berlin-Westend wird immer rätselhafter. Viele Indizien sprechen gegen die Familie des Opfers – aber den Ermittlern fehlen die Beweise.

Die Blumen auf dem Gehweg vor der Kanzlei sind fast alle verwelkt, die meisten liegen schon zwei Wochen hier. Die Grabkerze ist umgefallen, die Schrift der Beileidskarten vom Regen zerlaufen. Eine Karte, von Freunden des Opfers geschrieben, sticht hervor. Bloß ein einziger Satz steht drauf: „Wir werden in unserer Trauer von Tag zu Tag ungeduldiger und erwarten jetzt die baldige Aufklärung dieses Verbrechens.“ Wie es aussieht, werden sie noch länger warten müssen.

Mord in der idyllischen Leistikowstraße

Keine zehn Meter von den Sträußen entfernt, durch die hölzerne Eingangstür und dann rechts hinein in die Kanzlei, ist dieses Verbrechen passiert. Am 12. August, einem Montagnachmittag, wurde hier Ingo W., 49, Steuerberater und Notar, erschossen. Fernsehsender und Zeitungen berichteten tagelang über die Tat, und dafür gibt es zwei Gründe: Weil man an diesem Ort, in der Kanzlei eines erfolgreichen Juristen, in der idyllischen Leistikowstraße in bester Berliner Westend-Lage, keinen so brutalen Mord erwarten würde. Und weil es diesen ungeheuerlichen Verdacht gibt: Wurde Ingo W. von einem seiner Söhne ums Leben gebracht?

Noch am Tag der Tat nahm die Polizei beide vorübergehend fest, sie sind 16 und 18 Jahre alt. Die Familie, hieß es bald, war tief zerrüttet, Ingo W. lebte von seiner Frau getrennt, die Scheidung stand bevor.

Augenzeugen hatten einen jungen Mann aus der Kanzlei flüchten sehen. Und die Tatumstände, sagen Ermittler, sprechen sehr dafür, dass kein Profi am Werk war. Es gab die Hoffnung, ein technisches Gutachten werde Gewissheit bringen, es ging um Schussablagerungen an der Kleidung der Söhne. Diese Hoffnung ist nun zerplatzt: Wie die Berliner Polizei Mittwochabend mitteilte, brachte die Untersuchung „kein eindeutiges Ergebnis“. Das heißt ausdrücklich nicht, dass jetzt nicht mehr gegen die Söhne ermittelt wird.

Von den neun Schüssen, die der Täter an jenem Nachmittag abgab, verfehlten vier ihr Ziel. Vier weitere trafen Ingo W. in die Brust, einer in den Kopf. Kriminalisten nennen das „Übertötung“. Wenn einer mehr Schüsse als nötig abgibt, kann das von besonderem Hass auf das Opfer zeugen. Oder davon, dass er ganz, ganz sichergehen will.

Intaktes Familienleben war lange nicht offensichtlich

Dass hinter der Fassade des intakten Familienlebens Krieg herrschte, war lange nicht offensichtlich, sagt Klaus Misch. Er hat die Familie ewig gekannt. Misch ist ihr Hauswart, denn die W.s leben gleich im Gebäude rechts neben der Kanzlei. Er hat ihnen manchmal geholfen, Möbel in den Keller zu tragen, und er dachte: was für angenehme Menschen! Bis Silvester 2011 etwas anders war. Da kam Ingo W. um Mitternacht nicht wie sonst runter auf die Straße und hat seine Raketen abgefeuert. Da war er gerade eine Woche zuvor ausgezogen.

Wer mit Klaus Misch und seinem Hund um die Häuserecken spaziert, bekommt schnell einen Eindruck, wie sich das Leben in der Leistikowstraße seit dem Verbrechen verändert hat. Die Nachbarschaft steht unter Dauerbeobachtung, sagt er. Zum Beispiel der schwarze Audi Cabriolet, der direkt vor der Kanzlei auf dem Bürgersteig parkt. Darin sitzt ein Boulevardfotograf und wartet, dass irgendetwas passieren könnte. Der Mann sagt, er sei eigentlich erst seit gestern hier. Die Nachbarn im Kiez sagen, er stehe ständig dort.

Als die Ermittler vor zwei Wochen den Tatort absperrten, war dies der erste Polizeieinsatz, an den sich Klaus Misch überhaupt in der Leistikowstraße erinnern kann. Und er lebt schon seit 1965 hier.

Die Witwe von Ingo W. geht kaum noch vor die Tür. Der Hauswart trifft sie ab und zu im Flur, sie wohnt zwei Etagen über ihm, sie grüßen sich dann kurz, sprechen sonst kein Wort. Wer bin ich denn, dass ich da nachfrage, sagt Misch.

Stattdessen reden die Nachbarn untereinander. Wenn man etwas partout nicht begreifen kann, hilft es, sich mit anderen auszutauschen, denen es genauso ergeht. Theoretisch könnte auch ein Klient das Verbrechen verübt haben. Dass Ingo W. Opfer eines Auftragsmords wurde, am Ende gar wegen dubioser Geschäfte, glaubt hier aber keiner, genauso wenig wie die Polizei. In der Nachbarschaft sind viele weiter davon überzeugt, dass eine Familientragödie stattgefunden hat, fehlende Beweise hin oder her. „Die Frau und die Söhne werden hier ihres Lebens nicht mehr froh“, sagt einer, der seinen Namen nicht nennen möchte. Der Hauswart sagt: „Also wenn man nach den Motiven geht…“ Er spricht den Satz nicht zu Ende, ruft lieber seinen Hund.

Von einer Anzeige gegen den Sohn bis zu Anschuldigungen gegen die Frau

Die Eltern des Opfers wollten nicht mit den Journalisten reden, aber sie wollten dringend etwas loswerden. Deshalb haben sie ein zweiseitiges Schreiben aufgesetzt, eine Pressemitteilung sozusagen, ihre Anwältin hat sie verschickt. Die Anschuldigungen darin klingen drastisch: Ingo W. sei von seiner Frau terrorisiert worden, sie habe „immer nur Geld gefordert“, um ein aufwendiges Leben führen zu können. Genau daran sei die Ehe zerbrochen.

Ingo W. zeigte seinen Sohn wegen Nötigung an

Doch Ingo W. war nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit den Söhnen zerstritten. Im Mai eskalierte die Situation: Nach einem Wortgefecht habe sich der Jüngere vor Ingo W.s Auto gestellt, um ihn am Wegfahren zu hindern. Der habe trotzdem Gas gegeben, dabei angeblich seinen Sohn gestreift. Die Polizei wurde gerufen. Ingo W. wandte sich ebenfalls an die Polizei – und zeigte den Sohn wegen Nötigung an.

Ingo W.s Eltern behaupten in ihrem Schreiben, ihr Sohn habe seine Kinder geliebt und gehofft, dass sich das Verhältnis zueinander bald wieder verbessern werde. Leider habe er sich nie mit ihnen aussprechen können: „Seine Ehefrau verhinderte wiederholt, dass ein Gespräch des Vaters mit seinen Söhnen ohne ihre Beteiligung stattfinden konnte.“

Zum Zeitpunkt des Mordes befanden sich drei Angestellte in der Kanzlei, allerdings im Nebenzimmer. Eine sagte anschließend vor der Polizei aus, sie habe nach den Schüssen einen jungen Mann flüchten sehen. Erkannt habe sie ihn aber nicht. Als die Polizei eine halbe Stunde nach der Tat an der Wohnung der W.s im Nachbarhaus klingelte, traf sie die Frau und beide Söhne an. Klaus Misch, der Hauswart, sah zu, wie die Söhne runter auf die Straße gebracht wurden und in den Streifenwagen stiegen.

Nach einem Tag wurden sie freigelassen, schon da hieß es: keine Beweise. Zudem bestehe keine Fluchtgefahr. Seither gleicht das Leben der Söhne in der Leistikowstraße einem Spießrutenlauf: Wenn sie einkaufen gehen oder wenn der Jüngere von der Mutter zum Cello-Unterricht gebracht wird, immer ist mindestens ein Fotograf zur Stelle.

Die Tatwaffe wird noch immer gesucht

Als seine Frau Ingo W. im Dezember 2011 aus der Wohnung warf, zog er in eine Gartenlaube. Das Grundstück befindet sich in der Kolonie Ruhwald, sechs Minuten Autofahrt von der Kanzlei entfernt. Parzelle 163. Es ist von einer hohen Hecke umgeben, nur das Eingangstor gewährt Durchblick. Gepflegt sieht es aus, eine riesige Grautanne überragt die Laube, eine Satellitenschüssel steht auf dem Dach. Vier Tage nach dem Mord ist die Polizei hier gewesen, sie hat die Tatwaffe gesucht, eine Neun-Millimeter-Pistole. Gefunden hat sie die Waffe bis heute nicht.

Schräg gegenüber von W.s Parzelle steht am Hang das Vereinshaus der Kolonie. Es gibt darin einen geräumigen Versammlungssaal mit Theke, Schallplatten hängen von der Decke. Im Nebenraum sitzt Christel Hübner, die Vereinsvorsitzende, hinter ihrem Schreibtisch. Sie hat das Opfer gut gekannt, Ingo W. war bei den Sitzungen anwesend, er hat geholfen, die neue Vereinssatzung auszuarbeiten. In den Monaten, in denen er hier wohnte, haben sie sich öfter getroffen, sie lud ihn zum Abendessen ein, es gab Eisbein. In seiner Laube waren sie nie. Das war doch eine Junggesellenwohnung, sagt sie und versucht ein Lachen. Eigentlich weint sie mehr.

Ingo W. - ein Mann, der Harmonie suchte

Was Ingo W. für ein Mensch war? Ein uneitler und bescheidener, sagt Christel Hübner. Einer, dem man wünschte, irgendwie glücklich zu sein. Ganz besonders aber einer, der Harmonie liebte. Ingo W. hat sich in den Schlichtungsausschuss des Vereins wählen lassen. Wenn zwei Mitglieder in Streit gerieten, etwa weil ein Baum das Grundstück des anderen in Schatten legte, konnten sie Ingo W. das Problem schildern, und dann haben sie gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Chronisch überarbeitet war er übrigens auch, sagt Christel Hübner. Sie hat ihn oft mit aufgeschlagenen Akten in der Kolonie gesehen.

Im Juni ist er aus seiner Laube wieder ausgezogen. Er hatte eine neue Frau kennengelernt, und sie waren zufrieden, sagt Christel Hübner. Sie sagt auch, Ingo W. habe ihr Dinge über seine Ehefrau anvertraut, die sie nicht weitererzählen möchte. Weil sie nicht wisse, ob das im Sinne des Opfers wäre. Nur so viel: „Die hat ihn wirklich gequält.“

Das Gutachten, in das die Ermittler der fünften Mordkommission ihre Hoffnung gelegt hatten, sollte zeigen, ob sich an den Körpern oder der Kleidung der Söhne Schmauchspuren befanden. Die entstehen bei jedem Schuss, weil neben der Kugel immer auch eine Wolke mikroskopisch kleiner Partikel aus der Mündung gestoßen wird, Abfallprodukte der Verbrennung. Diese Partikel verteilen sich in der Umgebung und bleiben auch an demjenigen kleben, der die Waffe führt. Weil beide Söhne kurz nach der Tat festgenommen wurden, glaubte man, an ihnen eine Menge Partikel zu finden. Das war nicht der Fall – jedenfalls nicht in ausreichender Menge. Eine Boulevardzeitung vermeldete das Gerücht, es seien sehr wohl Teilchen gefunden worden, allerdings nicht nur bei einem Sohn, sondern gleich bei beiden und auch der Mutter. Die Polizei kommentiert das nicht.

Rund 100 Menschen werden jedes Jahr in Berlin von anderen Menschen getötet. Neun von zehn Fällen können aufgeklärt werden. Es könnte passieren, dass ausgerechnet ein Mord am helllichten Tag, an einem Ort mit Augenzeugen, erkennbar amateurhaft ausgeführt, niemals aufgeklärt wird. Es könnte sein, dass ausgerechnet ein mutmaßlicher Stümper mit seiner Tat durchkommt. Es wäre wirklich unvorstellbar.

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