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Berlin: Munteres Miteinander

Im Lebenstraum-Haus in Moabit wohnen Leute von fünf bis neunzig, Singles und große Familien – eines von 400 Mehrgenerationen-Projekten in Berlin

Der Kopfkrauler ist der Kracher. Jeder, der in die Küche kommt, bekommt das Drahtding auf den Kopf gestülpt und fängt an zu juchzen. Den habe er neulich auf einem Biomarkt gekauft, amüsiert sich Wohnprojektgründer Gotthard Schulte-Tigges, 57, und stellt ihn auf den großen Holztisch. Im Eckhaus Perleberger- und Lübecker Straße in Moabit lässt es sich offenbar ganz munter leben. Die versammelte Mehrgenerationen-Tafelrunde aus Verwandten und Nachbarn wirkt familiärer als manche Familie.

Jamie Färber, blond, verschwiegen und fast fünf, ist die Jüngste. Außer ihrer Mutter Franziska, 24, leben auch Oma Ute, 50, der geschiedene Opa Lutz und ihr Onkel Tom, 12, im Lebenstraum-Haus. In verschiedenen Wohnungen. Das habe sich so ergeben, sagen die Färbers milde lächelnd. Die älteste Hausbewohnerin Friede Schulte-Tigges, 90 und Gotthards Mutter, ist 2002 aus Frankfurt am Main hergezogen. Eine Idee der Hausgemeinschaft. Sie brauchte nach einer Krankheit Hilfe und fühlt sich wohl hier. „Bislang haben wir uns noch nicht gehauen“, spaßt sie.

Der Steckbrief des Lebenstraum-Hauses: Ein modern aufgestockter, sanierter Altbau mit Solaranlage auf dem Dach, 22 Mietparteien, 29 Erwachsene, 25 Kinder, Gästewohnung und Ladenräume im Erdgeschoss dienen Selbsthilfeprojekten. Bauphase 1997 bis 2001, Kosten gut vier Millionen Euro, teils öffentlich gefördert, teils von den Genossenschaftlern selbst bezahlt und in mehr als 40 000 Baustunden erarbeitet.

„Wir sind ein Wohnprojekt für Alleinerziehende mit Kindern, das zu einem Mehrgenerationenhaus geworden ist“, sagt Schulte-Tigges. Um eine gute Mischung im Haus zu schaffen, seien aber auch Komplettfamilien oder kinderlose Singles wie er willkommen gewesen. „Von Hippiebude bis Designerwohnung ist alles vertreten“, meint Franziska Färber. Und ihre Mutter Ute, die samt Kindern 1989 aus Sachsen nach Berlin gezogen ist, ergänzt: „Man kann an jede Tür klopfen, wenn man was hat.“ Nur die beiden türkischen Familien blieben unter sich, die widerstünden allen gemeinsamen Hausaktivitäten.

Um die 400 gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte gibt es in Berlin, schätzt Diplom-Ingenieur Winfried Härtel. Die meisten allerdings im Planungsstadium. Der 32-jährige Architekt betreut seit 2003 Baugruppen in der Stadt. Unter anderem die ökologische Mehrgenerationensiedlung Lebenstraum Johannisthal. Was die ersten Schritte sind, die er den immer mehr werdenden Interessierten rät? „Erst mal alle Vorstellungen in einer Zukunftswerkstatt klären, ein Konzept stricken, mehrere Architekten um Vorschläge bitten und natürlich ein konkretes Haus oder Grundstück suchen.“ Letzteres sei nicht so einfach, denn der Berliner Liegenschaftsfonds verkaufe Grundstücke schnell und meistbietend. „Nicht, dass Wohnprojekte weniger zahlen als Investoren, aber sie brauchen mehr Zeit.“

Fördergelder, wie sie das Lebenstraum-Haus in Moabit noch vor einigen Jahren bekommen hat, sind inzwischen rar. Wohnen an sich ist nicht förderungswürdig. Nur wenn das Konzept gemeinnützig oder ökologisch ausgerichtet sei, gebe es hier und da noch Zuschüsse, sagt Winfried Härtel. „Im Bereich Wohnprojekte gibt’s nichts geschenkt.“ Bauherren brauchen in der Regel 25 Prozent Eigenkapital. Das gilt sowohl für Baugruppen, wo jeder Besitzer einer eigenen Wohnung wird, wie auch für Wohnprojekte, die als Genossenschaft bauen oder sanieren und dann quasi bei sich selber zur Miete wohnen. „Es gibt aber auch immer wieder spezielle Lösungen“, ermutigt Härtel. Die boomende Wohnprojektszene sei eben sehr unübersichtlich.

In Gotthard Schulte-Tigges’ Küche scheint immer noch die Sonne, obwohl es langsam Abend wird. Die Tür geht auf und Michaela Miehlich, 41, schneit herein. Sie ist Krankenschwester und leitet einen Pflegedienst. Was ihr das Lebenstraum-Haus bedeutet? „Die Hälfte der Steine hier hab’ ich selber angefasst.“ Das sei schon eine starke Identifikation. Sie sei aber nicht eingezogen, um im Alter versorgt zu sein, sondern um jetzt gut zu leben. Das Bauen habe zusammengeschweißt, meint auch Ingenieur Schulte-Tigges. „Alle haben immer gesagt: Das wird euer Lebenstrauma!“ Das sei es aber trotz diverser Abgänge absolut nicht geworden. Da sind sich auch die Färbers sicher.

Ob das Miteinander auch funktioniert, wenn’s im Alter hart auf hart kommt und Pflege nötig ist? Das werden wir sehen, sagen die Hausbewohner. Die beiden Greisinnen unter ihnen würden zwar in erster Linie von Verwandten betreut. „Aber ich musste in den fünf Jahren, die Mutter hier lebt, noch nie einen Pflegedienst in Anspruch nehmen“, sagt Gotthard Schulte-Tigges. Die Nachbarn helfen ihr, wenn er verreist ist. Der Rest bleibt abzuwarten – auch im Lebenstraum-Haus.

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