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Bewegtes Leben. Georg Weise wurde 1930 geboren.

© Museum Neukölln

Museum Neukölln zeigt Videoinstallation: Kindheitserinnerungen aus den Kriegsjahren

Eine Videoinstallation im Museum Neukölln lässt persönliche Kindheitserinnerungen an die Jahre im Zweiten Weltkrieg lebendig werden.

Georg Weise war drei Jahre alt, als die NSDAP an die Macht kam. Als er sechs war, wurde sein Vater verhaftet. Als er neun war, wurde seine Schule in Neukölln zum Reservelazarett und mit Fünfzehn erlebte er, wie die Bomben auf Berlin fielen. Weises Geschichten vom Krieg beinhalten nicht die typischen Antagonismen von Opfern und Tätern, Schuld und Unschuld. Es sind Erinnerungen eines Kindes, das nie etwas anderes kannte als Krieg und für das der Ausnahmezustand die einzige Normalität war, die es gab.

Weises Erinnerungen aus der Zeit zwischen 1939 und 1945 handeln deswegen nicht von der Front, sondern von den leeren Straßen Berlins: „Da hatten wir Platz zum Spielen. Autos fuhren da nicht mehr, die wurden ja alle beschlagnahmt für Kriegszwecke“, erzählt Georg Weise im Gespräch.

Museum Neukölln greift die Erinnerungen auf

Diese und viele andere Kindheitserinnerungen sind ab Samstag in einer Videoinstallation der Künstlerin Ina Rommee und des Fotografen Stefan Krauss im Museum Neukölln in Britz zu sehen. Es sind die Geschichten von drei Neuköllnerinnen und fünf Neuköllnern, die in einer halbrunden Hängung auf Bildschirmen digital zusammenkommen. Die acht Zeitzeugen nehmen Platz an einem imaginären runden Tisch, erzählen eindringlich von ihren Geschichten und fügen den Geschichten der anderen Neues hinzu.

Auf Augenhöhe installiert, hält der Blick der Zeitzeugen den Betrachter fest. Wie angewurzelt steht man als Besucher inmitten der Geschichten. Die leere Mitte ist auf einmal gefüllt mit einem Gegenüber: der Generation von Kindern und Enkeln, die jetzt noch ein letztes Mal die Chance haben, zuzuhören.

[„Neuköllner Kriegskinder“. Videoinstallation im Museum Neukölln, Alt-Britz 81. von Ina Rommee. 11. Januar bis 5. April. Mehr Infos: www.museum-neukoelln.de.]

Die Erinnerungen ähneln sich

Durch Rommees präzises und einfühlsames Zusammenführen der Interviews ist eine Erzählung aus individuellen Erfahrungen und kollektivem Erleben entstanden. Als Zuschauer begibt man sich unbewusst auf die Suche nach den Unterschieden und Ähnlichkeiten der Geschichten und taucht dabei immer tiefer in den fremden Alltag der vertrauten Stadt ein. Zum kollektiven Erleben zählen zum Beispiel die Erinnerungen an das Fangspiel „Der, die, das verflixte und verfluchte Land“, eine Art Miniatur des real stattfindenden Krieges. Auch die Erinnerungen an die Schule, die damals im Schichtbetrieb stattfand, ähneln sich. Nach einer Bombennacht verglichen die Schüler untereinander, wer die schönsten Granatsplitter gefunden hatte.

Auf Augenhöhe. Künstlerin Ina Rommee (rechts) und Fotograf Stefan Krauss haben die Videoaufnahmen der Zeitzeugen so angeordnet, dass man ihnen wie an einem runden Tisch gegenüber sitzt.
Auf Augenhöhe. Künstlerin Ina Rommee (rechts) und Fotograf Stefan Krauss haben die Videoaufnahmen der Zeitzeugen so angeordnet, dass man ihnen wie an einem runden Tisch gegenüber sitzt.

© Mike Wolff

Die Brutalität des Naziregimes ist präsent

Zur kollektiven Erfahrung der damaligen Großstadtkinder zählte auch die Zeit, die sie in der Provinz verbrachten, weg von der eigenen Familie. „Mein Bestreben war es immer, nicht als Stadtkind aufzufallen“, erinnert sich Weise, der während des Krieges zwei Jahre im Südharz verbrachte und nur in den Ferien bei seiner Mutter in Berlin war. „Auf dem Bauernhof gab es viel zu essen, dort bekam der Hund, wovon in Berlin noch drei Personen gegessen hätten.“

Fast unvermittelt blitzt zwischen Anekdoten wie diesen immer wieder die Brutalität des Naziregimes hervor. „Für ein Kind sind Wörter wie ‚abgeholt werden' oder ‚gefallen sein' erst einmal völlig harmlos, es dauert, bis man versteht, was diese Wörter eigentlich wirklich meinen,“ sagt Weise. Auch er wusste bis zum Kriegsende nicht, was „abgeholt“ bedeutete. Einmal habe er in der Schule Prügel bekommen, als er auf die Frage, wo sein Vater sei, keine Antwort wusste.

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Auch an die zitternden Knie, als ein Polizist bei ihm und seiner Mutter klingelte, erinnert sich Weise lebhaft – genau wie an die Erleichterung, als dieser sie nur dazu aufforderte, Schnee zu kehren. Gemeinsam mit dem Fotografen Stefan Krauss widmet sich die Künstlerin Ina Rommee bereits seit 2017 der Dokumentation der Erinnerung von Kriegskindern. „Das Interesse für das Thema der Zeitzeugen kam durch meine eigene Großmutter“, sagt Rommee.

„Nach dem Krieg musste ich meinen Vater neukennlernen“

Rommee ist selbst in Kasachstan geboren und mit zweieinhalb Jahren nach Deutschland gekommen. Am Frühstückstisch habe ihre Großmutter Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Diese hätten davon gehandelt, wie sie als Kind von der Wolga nach Kasachstan gebracht wurde und auf dieser Fahrt ihre Geschwister verloren hat. „Spannende Märchen“ seien das gewesen, sagt Rommee, die sie am Ende aber nicht mehr losgelassen hätten. Diese „Märchen“ haben Rommee an Orte wie die Seniorenfreizeitstätte Bruno Taut gebracht. Dort hat sie sich auf die Suche nach Zeitzeugen begeben und auch Georg Weise kennengelernt. Der freut sich vor allem darüber, dass die Geschichten auch über die Ausstellung hinaus im Museum archiviert werden. Zu der Sammlung des Museums gehört bereits ein Schuh seines Vaters. Mit dem ist er nach Kriegsende vom Gefangenenlager in Brandenburg zurück nach Britz gelaufen. Auch daran erinnert sich der 89-Jährige noch gut. „Nach dem Krieg musste ich meinen Vater erst wieder neu kennenlernen, wir waren uns wie verloren gegangen“, sagt er.

Antonia Märzhäuser

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