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Berlin: Musik im Kopf - Carlo Inderhees Musikwerk geht zu Ende

Musik geht über das Hören hinaus. Sie erschöpft sich nicht im Klingen, ihr Wesentliches kann jenseits des Schalls liegen.

Musik geht über das Hören hinaus. Sie erschöpft sich nicht im Klingen, ihr Wesentliches kann jenseits des Schalls liegen. Das gilt nicht nur für Werke, deren kunstvolle Stimmführung sich erst im aufmerksamen Partiturstudium erschließt, sondern auch für solche Stücke neuer Musik, die eigentlich der Konzeptkunst zuzurechnen sind. Ihren Schwesterwerken der Bildenden Kunst ähnlich erscheinen deren Aufführungen als bloße Manifestationen einer Idee, eines rein gedanklichen Konzeptes, und nicht als Darbietung einer Komposition. Das Werk selbst verbleibt auf der Ebene geistiger Imagination und entgeht der kruden vollständigen Materialisierung.

Solche konzeptionellen Kunst- und Musikwerke können den Rahmen üblicher Darbietungen bei Weitem sprengen. Die Arbeit "3 Jahre - 156 Musikalische Ereignisse - eine Skulptur", die dieser Tage zu Ende geht, währte nicht weniger als drei Jahre.

Der Komponist Carlo Inderhees entwarf diese Struktur, derzufolge an jedem Dienstag zwischen dem 1. Januar 1997 und dem 31. Dezember 1999 auf der Querempore der Zionskirche in Berlin-Mitte um 19 Uhr 30 ein zehnminütiges Solo-Werk uraufgeführt wird. 31 Komponisten aus aller Welt, nicht aber Inderhees selbst, haben dem reduktiven Minimalismus nahe stehende Stücke geschrieben, zumeist sparsame und konzentrierte Gebilde, die auf den in der DDR-Zeit verfallenen und bis heute nur notdürftig gesicherten Kirchenraum reagieren. Gespielt wurden sie von Solisten der Berliner Neue-Musik-Szene.

Neben den wechselnden Musikern befindet sich eine Bodenskulptur von Christoph Nicolaus auf der Empore der Zionskirche. Sie besteht aus 96 parallel angeordneten, 30 bis 120 Zentimeter langen Bohrkernen aus blau, weiß und grau gemasertem Quarzphyllit, und zwar in zwei Gruppen: oben 42 Steine mit 120 Millimeter Durchmesser sowie etwa 80 Zentimeter darunter 54 Steine mit 70 Millimeter Durchmesser. Die Steine einer Gruppe berühren einander und bilden eine vielfältig, von der Farbe wie vom Relief her strukturierte Fläche. Jede Woche schickte der in München lebende Bildhauer eine Postkarte an Inderhees mit der Anweisung, zwei bestimmte Steine einer Gruppe in ihrer Lage zu vertauschen. Diese Veränderungen waren zu unscheinbar, als dass sie vom Woche für Woche wiederkehrenden Besucher bemerkt werden konnten, doch dieser wusste um die stete Permutation der Konstanz verheißenden Skulptur.

Was Carlo Inderhees in Berlin-Mitte etablierte, ist mehr als eine Reihe von Konzertminiaturen. "3 Jahre - 156 Musikalische Ereignisse - eine Skulptur" hat eine ungewöhnliche Präsenz auch außerhalb der Performances entwickelt, und zwar in den "Pausen" von 167 Stunden und fünfzig Minuten zwischen den Darbietungen ebenso wie in der Aufführungszeit für jene, die nicht den Weg in die Zionskirche fanden. Denn wer in den letzten Jahren von dem Projekt wusste, der erfuhr die Folge von Dienstag-Abenden als Strukturierung seiner eigenen Lebenszeit und hatte stets ein besonderes Bewusstsein für die Zeit des Konzertes, auch wenn er es nicht selbst miterlebte. Dem Zionskirchprojekt ist es so gelungen, ästhetische Erfahrungen in das alltägliche Leben seiner Rezipienten hineinzutragen. Hier wurden mit Klang und Skulptur Zeit, Raum und sozialer Ort artikuliert, die im Bewusstsein bleiben werden, wenn der letzte Ton heute längst verklungen sein wird.Zionskirche am Zionskirchplatz, "Ein Klang"

von Antoine Beuger, Ringela Riemke, Cello, heute, 19 Uhr 30.

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