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Viele Frauen, die sich an die Telefonseelsorge wenden, wollen anonym bleiben.

© dpa

Muslimisches Seelsorge Telefon: Trost und Sorgen für Muslime

Speziell muslimische Probleme? Gibt es nicht. Trotzdem rufen immer mehr Menschen beim Muslimischen Seelsorge Telefon in Berlin an. Sie erzählen von Einsamkeit, Gewalt und Sucht. So etwas lässt sich nicht einfach wegbeten.

Was wünschst du?, fragte sie. Hör mir einfach zu, bitte. Also hörte sie zu.

Die junge Frau am anderen Ende des Telefons sprach von Schmerz und Scham, sie sprach vom größten anzunehmenden Kummer. Sie erzählte von einer Vergewaltigung – von der sie sonst niemandem erzählen konnte. Außer ihr, die sie gar nicht kannte, nicht mal vor Augen hatte, nur eine Stimme am Telefon, aber das war genug.

Hätte sie durchs Telefon blicken können, dann hätte sie eine junge Frau gesehen, den schwarzen Kajalstrich schwungvoll in die Augenwinkel verlängert, elegant, schlank, groß, mit wachem Blick, Kopftuch, Schmuck. Aber das sah sie natürlich alles nicht, und es ist auch nicht wichtig. Es geht hier nicht um Äußerlichkeiten, nicht mal Namen spielen eine Rolle. Es geht um Unsichtbarkeiten.

Diese junge Frau ist 24 Jahre alt, sie sitzt in einem Zimmer der ersten Etage eines Hinterhofhauses in Prenzlauer Berg, im Kreis mit drei anderen Frauen. Sie sprechen über die vergangenen Wochen, über alles, was sie angehört haben. Was sie währenddessen gedacht haben und vielleicht anschließend dazu gesagt. Nicht immer sollen sie ja nur zuhören.

Sie alle sind Ehrenamtliche beim Muslimischen Seelsorge-Telefon. In regelmäßigen Abständen treffen sie sich mit einer professionellen Supervisorin. Denn niemand kann schließlich die ganze Zeit mit den Sorgen der anderen herumlaufen und nie selber darüber sprechen.

Fenster in eine andere Welt

„Diese Anrufe“, sagt eine von ihnen, 30 Jahre alt, „sind wie ein Fenster in eine andere Welt.“ Sie ist Studentin, Ehefrau und Mutter, ihrer Familie geht es gut. Gott sei Dank. „Man wird dankbar“, sagt sie.

„Die Sorgen sind Geheimnisse, die ich in kleine Schatztruhen verpacke“, sagt die 24-Jährige, Studentin der sozialen Arbeit. „Ich nehme die Sorgen nie mit.“

„Sie beten für uns“, sagen alle drei und dann, fast erstaunt: „Die brauchen uns wirklich.“

Seit fünf Jahren gibt es das Muslimische Seelsorge-Telefon MuTeS nun in Berlin. Die Zahl der Anrufer stieg seit dem Tag der Gründung 2009 so stetig, dass der Dienst seit einem Jahr sogar rund um die Uhr zu erreichen ist. Wobei nachts, das haben sie festgestellt, eher weniger anrufen. Ganz anders als bei der kirchlichen Telefonseelsorge zum Beispiel, wieso auch immer.

Rund 18 500 Menschen haben sich bis Ende März dieses Jahres an die ehrenamtlichen Seelsorger gewandt. Nicht immer ist das Problem so schwerwiegend wie eine Vergewaltigung. Manchmal ist sogar das Schwierigste, herauszubekommen, wo es wirklich liegt.

„Manchmal“, sagt Imran Sagir und formt mit seinen großen Händen einen Kokon, „manchmal ist jemand in seinem Thema gefangen.“ Sich zu öffnen, im wahrsten Sinne, und seine Sorgen loszuwerden, sei ein erster Schritt.

Imran Sagir, 40 Jahre alt, mit freundlicher Stimme und der Statur eines Türstehers, sitzt in einem kleinen Zimmer unterm Dach. Seinen Schreibtisch hat er mit der Längsseite unter die Schräge geschoben, auf der Tischplatte stapeln sich Papier und mehrere Ausgaben der Zeitschrift „Psychologie Heute“. Hier oben liegt die Zentrale des Seelsorge-Telefons, über den dunklen Teppich laufen die Mitarbeiter auf Socken, es ist gemütlich und ruhig. In einem kleinen Raum steht das Telefon, unscheinbar neben einem Computer. Alle Türen hier sind geöffnet. Nur wenn das Telefon klingelt, wird die Tür zum Zimmer geschlossen. Was dort drin besprochen wird, ist privat.

Die meisten Anrufer sind Frauen

Spezifisch muslimische Probleme? Die gibt es so nicht, sagt Imran Sagir. „Aber es gibt Themen, die sich im religiösen Kontext bewegen.“ Auch von der „seelsorgerischen Haltung“, so nennt er das, unterscheide sich das Seelsorge-Telefon nicht von anderen, den Bezugsrahmen „Islam“ mal außen vor. Gesprochen wird Deutsch. Außer dienstags, dem türkischen Tag. Oder auf Anfrage. Einige der Seelsorger sprechen Arabisch oder Urdu. Den Anrufern ist es gelegentlich lieber, wenn’s ums Herz geht, die Muttersprache zu nutzen.

Nach jedem Telefonat kreuzen die Seelsorger an: worum ging es, war der Anrufer ein Mann oder eine Frau. Für die Statistik, nach der Imran Sagir nun im Computer sucht. Die größte Gruppe der Anrufer ist zwischen 20 und 29 Jahre alt, sagt Sagir, gefolgt von denen zwischen 30 und 39. Die meisten, die anrufen, sind Frauen. Die meisten, die hier arbeiten, ebenfalls.

Manche Anrufer haben finanzielle Sorgen, Ärger bei der Arbeit oder mit ihrem Partner. Um Beziehungsthemen geht es ziemlich oft, alles, was lieber nicht mit dem besten Freund oder der Freundin besprochen wird, damit der „nichts Schlechtes denkt“. Oder Einsamkeit, sagt Sagir. „Ist auch ein großes Thema.“ Zwei Sachen also, die ziemlich gegensätzlich klingen – und es gar nicht unbedingt sind. Auch umgeben von Menschen kann man schließlich ziemlich einsam sein, sich zu zweit verlassener fühlen als allein.

Einige erkennen die Mitarbeiter schon an der Stimme. Daueranrufer nennen sie die hier, fast klingt es ein bisschen liebevoll. Mit manchen haben sie eine Verabredung: okay, zehn Minuten am Tag Reden, aber mehr nicht, die anderen warten.

Einsamkeit, die aus Missverständnissen resultiert

Arbeit beim Muslimischen Seelsorge-Telefon.
Arbeit beim Muslimischen Seelsorge-Telefon.

© MuTeS

Einsamkeit ist sicher auch kein spezifisch muslimisches Problem. Aber vielleicht ist manche Einsamkeit spezifisch. Gerade bei der Altersgruppe, die sich bei MuTeS meldet. Die Anrufer sind meistens Kinder einstiger Immigranten, manchmal sogar ihre Enkel, die meisten sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. „Was Bezugspersonen angeht, ist die mittlere Generation zu kurz gekommen“, sagt Cicek Bayrakci. Die türkischstämmige Psychotherapeutin betreibt eine Praxis in Kreuzberg und was sie erzählt, klingt ganz nach dem Dilemma des sich weder hier noch dort Willkommenfühlens, nicht in der Heimat der Eltern, nicht hier. „Ein Identitätskonflikt“, sagt Bayrakci. Einer, der nicht zu lösen ist, sondern auszubalancieren.

Es kann also Einsamkeit sein, die auch aus Missverständnissen resultiert, daraus, dass Eltern und Großeltern ihre Kinder und Enkel nicht mehr verstehen und anders herum. Manche der Anrufer beim Seelsorge-Telefon jedenfalls scheinen Menschen zu sein, die so vielen Ansprüchen gerecht werden wollen – den traditionellen der Familie, den modernen der Universität und Schule, oder denen einer Großstadt wie Berlin – dass sie sich selber dazwischen verloren gehen.

Viele leben zudem mit dem gefühlten Anspruch, dass man als Muslim, als Kind von Einwanderern obendrein, immer normaler sein muss als normal, besser als gut. Auch Imran Sagir ist das schon begegnet. Als Geschäftsführer des Seelsorge-Telefons, der einige kirchliche Kollegen erst sanft überzeugen musste, dass sie es nicht mit Radikalen zu tun haben. Und als Bürger dieser Stadt, in der ihm ein Vermieter abverlangte, eine schriftliche Erklärung abzugeben: Wie integriert bin ich?

Rund 160 Stunden Ausbildung

Imran Sagir ist in Berlin geboren, er ist hier zur Schule gegangen und hat hier studiert, erst Bauingenieurwesen, schließlich BWL. Er ist der Stadt ziemlich treu geblieben, sieht man davon ab, dass er Fan des HSV ist. Seine Eltern sind vor mehr als 40 Jahren aus dem Nordosten Indiens nach Deutschland gekommen. Als sich seinem Vater die Gelegenheit bot, im Ausland zu arbeiten, griff der zu. Der Vater wollte für ein paar Jahre in Deutschland bleiben – und blieb dann Jahrzehnte. Wie das so ist. Umgangssprachlich ist Imran Sagir ein Migrant zweiter Generation, was immer nach einer ziemlich langen Wanderung klingt und nicht nach 40 Jahren Berlin-Charlottenburg.

Am frühen Abend dieses Märztages steigt Imran Sagir die vielen Treppen aus dem Dachgeschoss hinunter, um im Nachbarhaus wieder einige zu erklimmen. Es ist der letzte Ausbildungsabend einer Gruppe künftiger Telefonseelsorger. „Sucht“ ist das Thema des Abends und während sich der Raum mehr und mehr füllt, während jeder seine mitgebrachten Kekse und Kuchen zwischen die Tee- und Kaffeekannen auf den Tisch stellt, baut eine junge Frau am Kopfende Laptop und Beamer auf. Sie hat einen Vortrag vorbereitet, es geht um allerlei Süchte, Glücksspiel, Drogen, Medikamente.

In einem Regal neben der Tür liegen zusammengelegte Gebetsteppiche, am anderen Ende des Raumes hängt ein großes hölzernes Kreuz an der Wand. Für die Ausbildung der Seelsorger nutzt MuTeS dieselben Räume wie auch die Kirchliche Telefonseelsorge KTS. Zwischen den beiden Diensten besteht ein Kooperationsvertrag. Mittlerweile arbeiten sie hier so eng zusammen, die christlichen und muslimischen Seelsorger, dass sie schon Witze machten: Hey, übernehmt ihr doch unsere Schichten an den christlichen Feiertagen, dann springen wir für euch an den muslimischen ein.

"Wir haben gelacht und geweint"

Rund 160 Stunden umfasst die Ausbildung zum Telefonseelsorger bei MuTeS, „die Selbsterfahrung ist dabei das A und O“, sagt Imran Sagir. Die Theorie, wie an diesem Abend, ist nur das Gerüst drum herum. Zu wissen, wer man selber ist und wo man steht, sei das wichtigste Ziel der Ausbildung. Nur wer das weiß, kann anderen helfen. Deswegen haben sie Stammbäume ihrer Familien erstellt, sie haben gedankliche Reisen zurück in ihre Kindheit unternommen und über ihre Ängste gesprochen.

„Wir haben gelacht und geweint“, sagt eine junge Frau.

„Wir kennen uns jetzt besser als unsere Familien“, sagt ein junger Mann.

Die meisten hier sind Studenten oder in der Ausbildung und somit ein guter Querschnitt der übrigen MuTeS-Seelsorger. Manche sehen dieses Ehrenamt als eine Art Ergänzung zur ihrem sozialen Studium, andere wünschen sich, dadurch den Segen Gottes zu erlangen. 73 Ehrenamtliche arbeiten mittlerweile bei MuTeS, die älteste ist 70 Jahre alt. Wer als Telefonseelsorger anfängt, verpflichtet sich für drei Jahre – und für drei Schichten im Monat, etwa zwölf Stunden insgesamt. Niemand hier nimmt das leicht.

Religion ist der Bezugsrahmen, nicht die Lösung der Probleme

Der Beamer wirft Informationen zur Sucht an die Wand. Dopamin. Gruppenzwang. Leidensdruck der Angehörigen. „Cüs“, sagt eine junge Türkin leise, du liebes bisschen. Jeder hier kennt Geschichten von Bekannten, die zu viel Geld in Wettbüros lassen – oder im Glücksspielautomaten. Eine erzählt von ihrer Freundin: Kann die den pubertierenden Söhnen verbieten, Online-Spiele zu spielen? Ist es okay, dass sie froh ist, dass die nur spielen, statt auf Partys zu gehen und dort vielleicht Alkohol zu trinken? Welche Beratungsstellen sind zu empfehlen?

„Sucht ist nicht einfach wegzubeten“, sagt Imran Sagir und natürlich hat das in der Runde auch niemand geglaubt. Dafür ist das Ganze viel zu ernst, zu lebensnah. Religion ist hier der Bezugsrahmen, die Lösung der Probleme ist sie nicht.

„Der Sagir“, hat Uwe Müller noch kurz zuvor in bestem Berlinisch gesagt, „dit is so’n Oberengagierter.“ Uwe Müller, 54 Jahre alt, leitet seit etlichen Jahren die Kirchliche Telefonseelsorge KTS und ist Sagirs enger Vertrauter. Gemeinsam suchen sie bei Auswahltagungen neue Telefonseelsorger aus, gemeinsam führen sie diese auch durch die Ausbildung, gemeinsam verbringen die beiden Stunden um Stunden im Auto, auf dem Weg zum nächsten Ausbildungswochenende. Den muslimischen Kollegen gab Uwe Müller zu Beginn ihrer Arbeit drei dicke Aktenordner mit: die bundesdeutschen Standards der Telefonseelsorge. Auf alles konnten sie sich einigen, mit Ausnahme, versteht sich, der heilmachenden Kraft Jesu Christi.

Er sei erstaunt, sagt Müller, mit welcher Offenheit und Begeisterung die Muslime sich mit kulturellen und religiösen Werten auseinandersetzten. Imran Sagir allen voran. Bis heute übernimmt der neben aller Verwaltungsarbeit bei MuTeS zwei Nachtschichten pro Monat. „Ich will an der Front sein“, sagt er, „um zu wissen, was los ist.“

Grenzen des Verständnisses

Sagir war schon in der Muslimischen Jugend Deutschlands aktiv, später dann Geschäftsführer des Vereins deutscher Muslime Inssan. Gemeinsam mit einigen anderen Verbänden hatte MuTeS auch versucht, eine muslimische Seelsorge in Berliner Gefängnissen zu etablieren. Vom Senat finanziert und begleitet, wurde das Projekt im Sommer 2013, noch bevor es starten konnte, gestoppt. Der Berliner Verfassungsschutz hatte Bedenken angemeldet. Weswegen genau, das erfuhren die Muslime und die Öffentlichkeit nie.

Dass Berlin, mehr noch: Deutschland, überhaupt ein Muslimisches Seelsorge-Telefon braucht, bemerkten vor Jahren auch die Mitarbeiter der KTS. Bei ihnen meldeten sich immer mehr muslimische Türken und denen zu helfen erschien den Christen zwar notwendig und wichtig, aber zunehmend weniger leicht. Die Muslime hatten Hemmungen, Nicht-Muslimen von ihren Problemen zu erzählen – und die stießen an Grenzen ihres Verständnisses, wenn jene Probleme einen kulturellen und religiösen Kontext voraussetzten, den sie nicht hatten.

In der humanitären Organisation Islamic Relief Deutschland fand die KTS schließlich einen Partner für ein solches Projekt. Die islamische Nichtregierungsorganisation engagiert sich gewöhnlich vor allem in Krisenländern – und weniger in denen der Spender. Weltweit vernetzt hilft Islamic Relief beispielsweise bei Katastrophen, unterstützt verwitwete Mütter in Bangladesch oder Fischer in Indonesien. Das Muslimische Seelsorge-Telefon ist das erste innerdeutsche Projekt der Organisation.

Bis heute finanziert MuTeS die jährlich anfallenden, niedrig sechsstelligen Kosten aus Mitteln von Islamic Relief. Die Deutsche Telekom, die als Partner der bundesweiten Telefonseelsorge die Gesprächskosten der KTS übernimmt, lehnte eine entsprechende Anfrage von MuTeS und dem russischsprachigen Telefon Doweria ab.

Geld heranzuschaffen, hatte Uwe Müller von Anfang an gewarnt, sei das Schwierigste überhaupt. Gleich neben der Tatsache, dass Anerkennung und Wertschätzung für Mitarbeiter, die sich zum Schweigen verpflichten und völlig anonym bleiben müssen, nur allerschwerstens zu bekommen sei. Dankesbriefe erhält hier niemand.

Nur Imran Sagir erzählt immer wieder von seinem allerersten Anruf – und wie es damit weiterging. Eine junge Frau war in der Leitung. Sie war von einem Bekannten vergewaltigt worden, ein Jahr lang lief sie mit dem Geheimnis herum. Bis sie es nicht mehr aushielt. Sagir bestärkte sie, sich auch an einen nicht-muslimischen Therapeuten zu wenden und mit ihrer Schwester zu sprechen, einer Ärztin. Monate später meldete sich die Frau wieder. „Es ging ihr besser“, sagt Imran Sagir, Gott sei Dank.

Das Muslimische Seelsorge Telefon ist zu erreichen unter der Nummer: 030 44 35 09 821

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