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Türken protestieren vor der türkischen Botschaft in Berlin gegen den Militärputsch in der Türkei.

© imago/snapshot

Nach dem Putschversuch: Türken in Berlin: "Erdogan kriegt alles unter Kontrolle"

Jets über Ankara, Panzer in Istanbul – an Schlaf ist auch für die Berliner Türken nicht zu denken. Sie ziehen mit rot-weißen Fahnen los, telefonieren mit ihren Familien: In der Heimat wird es nie mehr sein wie zuvor.

Als sich die Lage am Sonnabend klärt, als feststeht, dass der Putsch in der Türkei ein Versuch dilettantischer Offiziere geblieben ist, da sagt Ozon S., 45 Jahre, in Berlin-Wedding unerwartet: „Zum Glück!“

Warum das unerwartet ist?

Ozon S. ist Kurde, er steht – zumindest weltanschaulich – der Kurdischen Arbeiterpartei, der militanten PKK, nahe. Die ist in Deutschland verboten und in der Türkei hat ihr Staatschef Recep Tayyip Erdogan offen den Krieg erklärt – allein in diesem Jahr starben Tausende Kurden durch Polizisten, Geheimdienstler und Armee. Dass einige Soldaten nun den Aufstand gegen Erdogan probten, macht Ozon S. trotzdem Angst. „Erdogan ist ein Diktator, die Antwort auf ihn muss eine Demokratisierung sein – kein Putsch“, sagt er. „Das Militär hätte den Krieg gegen die Kurden vielleicht intensiviert.“ Außerdem sei Erdogan nun erst recht: unantastbar.

In Berlin gibt es alle: AKP-Türken, Graue Wölfe, linke Kurden

Drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in Deutschland, schätzungsweise 200.000 in Berlin. In der Stadt sind alle Parteien aus der Türkei vertreten, die meisten Sekten, sogar viele Fußballvereine haben eigene Dependancen. Mehr als 500 Berliner Türken sammeln sich auch am Samstagnachmittag vor der türkischen Botschaft – rote Flaggen mit dem weißen Halbmond vor dem Grün des Tiergartens. Die Stimmung ist friedlich. Die Demonstranten, die schon in der Nacht – unmittelbar nach dem Putschversuch – vor die Botschaft zogen, wirkten deutlich aufgeregter.

„Wir sind hier, um der Türkei in diesen schweren Tagen beizustehen“, sagt Ramazan Acar am Tag danach. Der 26-Jährige ist mit seiner Frau gekommen, hält eine Türkei-Flagge und trägt ein rot-weißes T-Shirt. „Wir verurteilen die Leute, die putschen wollten.“ Nun gehe es nicht um Parteien, sondern um das Land. Einigkeit – das ist der Tenor vor der Botschaft. „Der Putschversuch verbindet uns Türken auch hier eher noch enger“, sagt Acar. Seine Frau nickt. Ihr Onkel habe sie über die Geschehnisse in der Türkei auf dem Laufenden gehalten. „Dort ist es schon wieder sicher auf der Straße.“

Auch am Samstag 500 Demonstranten vor der Botschaft

Er kenne niemanden, der für den Putsch gewesen sei – und wolle so jemanden auch nicht kennen lernen, sagt Murat Tam. Der Vater ist, wie er sagt, „mit Kind und Kegel“ vor die Botschaft gezogen, Tochter Selenay und Sohn Sefa stehen neben ihm. „Wir wollen zeigen, dass wir ein Volk sind.“ In einer Woche fliege die Familie für die Ferien in die Türkei. Sorgten sie sich nun vor der Reise? „Nein“, sagt die 16-jährige Selenay. „Man sollte nicht mit Angst leben.“

Unter den Berliner Türken dominieren leicht, wie Experten meinen, die Anhänger der AKP, also die islamischen, Erdogan-treuen Konservativen. Doch auch Kemalisten, autoritäre bis sozialdemokratische Laizisten, gibt es in der Stadt viele. Es heißt, einige von ihnen hätten den Putsch zumindest nicht als Katastrophe empfunden. Dann wiederum gibt es die Grauen Wölfe, rechtsradikale Befürworter einer Großtürkei. Und schätzungsweise 80.000, oft linke Kurden. Zur Bemerkung von Ozon S. passt, dass in der Nacht vor der türkischen Botschaft offenbar Anhänger fast aller Strömungen demonstriert haben. Dort, so heißt es, hätten Faschisten ausnahmsweise neben Linken gestanden, eine Militärdiktatur wie in den 80ern fürchten sie alle.

"Eigentlich wollte ich die Ferien in der Türkei verbringen"

Viele Berliner Türken haben in der Putschnacht nicht geschlafen und auch am Samstag verfolgen sie laufend die Nachrichten. Taxifahrer telefonieren lautstark über ihre Freisprechanlagen mit Verwandten. Verkäufer in den Läden in der Kreuzberger Oranienstraße starren auf die Fernseher statt auf die Kassen. Dönerverkäufer ziehen alle paar Minuten das Smartphone aus dem Kittel.

„Ich konnte nicht abschalten“, sagt die Verkäuferin in einer Bäckerei in Prenzlauer Berg. „Wir haben fast die ganze Nacht lang vor dem Fernseher gesessen und mit unserer Familie gesprochen.“ Eigentlich wollte die Verkäuferin den Sommer über zu ihren Verwandten in die Türkei reisen: „Keine Ahnung, was nun daraus wird.“ Auf die Bemerkung ihres Kunden, dass Erdogan ja offenbar die Lage wieder unter Kontrolle habe, lacht sie vielsagend und sagt: „Erdogan kriegt alles unter Kontrolle.“ Besonders berühre sie die hohe Zahl der zivilen Opfer: „Schrecklich, dass wieder so viele Unbeteiligte gestorben sind.“

In Berlin hält viele schon in der Nacht zu Samstag nichts mehr zu Hause. Sie fahren zur türkischen Botschaft in der Tiergartenstraße, ab Mitternacht protestieren dort fast 3000 Demonstranten gegen den Putsch in Ankara, schwenken die rot-weiße Nationalflagge, skandieren: „Türkiye, Türkiye!“ Selbst Ozon S. – der türkische Nationalisten fürchtet und die Regierung in Ankara erst recht – ärgert sich darüber nicht. „Dass so viele, auch in Ankara und Istanbul, auf die Straße gehen, zeigt doch, dass sich viel verändert hat. Die Türkei hat eine halbwegs demokratisch gesinnte Bevölkerung.“

Rechtsradikale und Islamisten mischen vor der Botschaft mit

Ozon S. stört, dass viele Demonstranten in der Putschnacht vor Botschaft auch „Allahu akbar!“ rufen – Gott ist der Größte. Ein ergrauter Imam ergreift dort das Wort, stimmt ein Gebet an, beschwört die Einheit des Landes. „Amin!“ – so sei es! – hallt es hundertfach aus entschlossenen Kehlen durch den Tiergarten. Der Imam soll Milli Görüs nahestehen, einer vom Verfassungsschutz beobachteten, antisemitischen, islamistischen Sekte.

Zu jenen, die in den Ruf einstimmen, gehören Ilhan, 28, und Ciftci, 30. Sie haben die Nachrichten im Fernsehen gesehen, den Aufruf Erdogans, auf die Straßen zu gehen. Es sei besser für das Land und dessen Stabilität, wenn der Putsch keinen Erfolg habe, sagt Ilhan, worauf Ciftci ergänzt: „Wir sind nicht für Erdogan hier, sondern für die Türkei.“ Und auch Talha, 31, aus Steglitz sagt: „Es geht um den Schutz der Demokratie. Egal, was man von Erdogan hält, er ist der demokratisch gewählte Präsident.“

Im Bus durch die Türkei, es wäre nicht sein erster Putsch

Jets über Ankara und Panzer in Istanbul – die erste Eilmeldung war am Freitag kurz nach 22 Uhr auf seinem Smartphone eingetroffen, da wählte Cem Kaya (Name geändert) in Neukölln die Nummer seiner Mutter. Was um alles in der Welt ist in der Türkei passiert? Dort, wo die Eltern jedes Jahr ihre Sommerferien verbringen. Das Telefon am Ohr schaltet der 35-jährige Berliner den Fernseher ein. „Mama, was ist los bei euch?“ - „Was soll los sein?“

Seine Mutter, die er in ihrem Heimatdorf tief im Landesinneren vermutet, sitzt in einem Bus nach Istanbul. Gemeinsam mit ihrem Bruder ist sie auf dem Weg zu einer Familienfeier. Der Bus rauscht durch die Nacht – niemand der Fahrgäste hat bislang von den Nachrichten gehört. Ausgerechnet der Anruf aus Berlin trägt die Neuigkeiten weiter, Cem Kayas Onkel googelt, liest nach, spricht schließlich ins Handy. Er ist aufgeregt, denn es wäre nicht der erste Putsch, den er erlebt. Bei einem der letzten Aufstände des türkischen Militärs schloss er sich aus lauter Sorge für drei Tage auf einer öffentlichen Toilette ein – besser, man ist nicht dort, wo etwas passiert.

Das Handy kommt nicht zur Ruhe. Eine SMS vom Cousin, eine Nachricht über Whatsapp, eine Freundin aus Istanbul schreibt, sie könne nicht raus: Es gibt eine Ausgangssperre.

„Ja, bleib besser drin!“

„Mal schauen...“

„Pass auf dich auf!“

Einige sagen: Mit Erdogan wird’s nun erst richtig schlimm

Zurück in Wedding, Samstag. Ozon S. würde nie sagen, man müsse nun Erdogan verteidigen, er sei allenfalls das kleinere Übel. Andere gehen rhetorisch einen Schritt weiter – und sagen ziemlich offen, dass sie auf den Sieg der Putschisten gehofft haben. Zum Beispiel im „Diyar“, einem Café am Kottbusser Tor. „Egal, was kommt“, sagt Erol, „für uns kann es nur besser werden.“

Ein gutes Dutzend Männer sitzt in der Putschnacht in der neonhell beleuchteten Stube, einige beugen sich über den Spieltisch, die meisten schauen gebannt das Fernsehprogramm von CNN Türk. „Wir sind alle Kurden“, sagt Erol. Der 43-Jährige lebt seit 1992 in Deutschland. Unter Erdogan habe sich die Lage der Kurden nur noch verschlechtert – und sie war vorher schon übel. Ein Kollege sieht die Nachrichten mit Sorge. „Hoffentlich schaffen es die Putschisten“, flüstert der 50-jährige Keser. „Wenn Erdogan das übersteht, wird’s richtig schlimm.“

Das befürchten auch die Aleviten, eine liberale, obrigkeitskritische Strömung im Islam, die am Oranienplatz in der Sonne sitzen. „Erdogan hat die Polizei und Armee von seinen Feinden säubern lassen“, sagt Mustafa – Basecap, Sneakers, Muskel-Shirt – im Ton eines Schülersprechers. „Er hat überall treue, gläubige Männer eingesetzt – wie konnte es da noch zu einem Putsch kommen?“ Mustafa drückt es anders aus, meint aber, ihn würde nicht überraschen, wenn Erdogan den Putschversuch der Offiziere zugelassen habe, um sich als „Verteidiger der Demokratie“ noch mehr Macht zu sichern.

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