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In Schönefeld gelandet. Vor einem Jahr kamen hier binnen weniger Wochen tausende Flüchtlinge an.

© Bernd Settnik/dpa

Nach dem "Wir schaffen das": Wie Berlin den ersten Flüchtlingszug empfing

Am 6. und 7. September 2015 waren 1000 Flüchtlinge mit der Bahn auf dem Weg in die deutsche Hauptstadt – eine enorme Herausforderung nicht nur für die Politik.

„Diese Geschichte“, sagt der Gesundheitssenator, „war der dramatischste Tag, den wir in Verbindung mit einem Flüchtlingszug hatten.“ Mario Czaja sitzt auf dem Sofa eines Cafes, er wirkt einigermaßen entspannt. Aber die Stimme ist nicht entspannt, sie verrät viel von der Dramatik damals. Sie verrät viel von dem, was am 6. und 7. September 2015 passiert ist. Es ist eine Geschichte, in der sich menschliche Tragik und skurrile Erlebnisse mit Behördenvorschriften vermischen. Czaja blickt zurück auf Erlebnisse, die auch ihn an den Rand der psychischen Belastungsgrenze gebracht haben.

Die Dramatik beginnt kurz nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Rücksprache mit dem österreichischen Präsidenten das Dublin-Abkommen aussetzt. Plötzlich kamen tausende Flüchtlinge über Österreich und Ungarn nach Deutschland. Berlin, der Hauptstadt, wird der Sonderzug ICE 2938 aus Salzburg angekündigt, besetzt mit 600 Personen.

Ein Teil dieser Menschen soll in der Schmidt-Knobelsdorff-Kaserne in Spandau untergebracht werden, ein anderer in Brandenburg. Der Stab der Berliner Gesundheitsverwaltung, die Helfer, alle sind darauf vorbereitet. Der Zug soll in München halten, dort mit Lebensmitteln versorgt werden und dann nach Schönefeld fahren. Von dort sollen die Flüchtlinge aufgeteilt werden. Ein Teil steigt in Busse und wird in Brandenburg untergebracht, der andere kommt nach Spandau. So war der Plan. Er sollte grandios schiefgehen.

Aus dem Zug meldet eine verzweifelte Mitarbeiterin der Diakonie der Leitstelle in Berlin, wo alle Verantwortlichen sitzen, telefonisch: „In dem Zug sind nicht wie angekündigt 600, sondern 1000 Flüchtlinge, Er ist völlig überfüllt.“ Und: „Es sind rund 80 Babys und Kleinkinder im Zug, die brauchen Brei.“

Die nächste alarmierende Nachricht: Der Zug hält nicht in München, warum auch immer. Er fährt durch bis nach Berlin. In der Leitstelle in Berlin erhöht sich die Hektik. Es ist inzwischen Abend, und nun richtete das Land Brandenburg einen Appell an die Verantwortlichen in der Leitstelle. Man solle den Zug nicht in Schönefeld anhalten, sondern bis Eisenhüttenstadt durchfahren lassen. In Schönefeld, so die Befürchtung, ließen sich so kurzfristig und mitten in der Nacht so viele Menschen unmöglich aufteilen.

Die Flüchtlinge sollen stattdessen in Eisenhüttenstadt den Zug verlassen – so dass man noch einige Stunden mehr zur Vorbereitung hätte. In Schönefeld werden sie dann an einem geeigneten Ort wie geplant aufgeteilt. Geplante Ankunft des Zuges aus Salzburg in Schönefeld: gegen 3 Uhr.

In Berlin besorgt nun die Freiwillige Feuerwehr aus einem Katastrophen-Schutzlager Babynahrung, das in Schönefeld in den Zug gereicht werden soll. In seiner Leitstelle steht Czaja, der Chef des Stabs, völlig unerwartet vor einer drängenden Frage: Wo bekommt er jetzt so kurzfristig die Busse her, die nach Eisenhüttenstadt und zurück fahren? Es ist nun etwa 23 Uhr. Also ruft Czaja die Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) an, Sigrid Nikutta. Czaja: „Frau Dr. Nikutta, ich brauche sechs bis sieben Busse, die nach Eisenhüttenstadt fahren und dort Flüchtlinge abholen. Die Busse müssen um 7.30 Uhr auf dem Bahnhof Eisenhüttenstadt stehen.“ – „Ich probier’s.“

30 Minuten später ruft die BVG-Chefin zurück. „Geht nicht, Berliner Busfahrer dürfen nicht auf Brandenburger Autobahnen fahren.“ Drei private Busunternehmen in Berlin werden angerufen, keine positive Antwort. Der Zug aus Salzburg fährt schon langsamer als geplant, die Leitstelle ist mit der Deutschen Bahn verbunden, die weist den Zugführer an, das Tempo zu drosseln. So, und nun? Und nun, sagt Czaja im Juli im Cafe, „fiel mir nur noch eine Lösung ein“.

Der Zug kommt, damit allerdings auch das nächste Problem

Die Lösung heißt Christian Hermann, ehrenamtlich Helfer des Technischen Hilfswerks (THW), hauptamtlich Busunternehmer. Ein Mann, der Schreckensszenarien gewöhnt ist. Czaja ist ein Freund von ihm. Diesen Freund ruft der Gesundheitssenator an. Der Vater von Christian Hermann war Offizier der Nationalen Volksarmee, der Sohn ist Reservist der Bundeswehr. Da wird eine klare Ansage verstanden. „Hör mal“, sagt Czaja in jener Nacht also. „Wir brauchen sechs Busse, die um 7.30 Uhr am Bahnhof von Eisenhüttenstadt stehen. Dies ist ein Auftrag.“

Um 7.30 Uhr soll der Zug ankommen. In Schönefeld wird er zuvor erstmal stehen, es dauert ja, bis die ganze Nahrung in den Zug gereicht ist. Nach 30 Minuten ruft der Busunternehmer Hermann zurück, es ist nun weit nach Mitternacht. „Ich habe nur fünf Busse“, sagt er. „Fünf reichen auch“, erwidert Czaja. „Und nun schick sie los.“

Die Busse kommen rechtzeitig nach Eisenhüttenstadt, sie warten auf die Flüchtlinge. Der Zug kommt, damit allerdings auch das nächste Problem. Denn im Zug sind auch kranke Menschen. Sie haben verschiedene Probleme, aber sie sind einheitlich als Kranke erkennbar. Auf ihrer Kleidung haben sie ein „K“. Eine solche Kennzeichnung von Kranken ist in Katastrophenschutz-Übungen oder im -Ernstfall absolut üblich.

Die Busfahrer weigern sich, die Kranken zu transportieren. „Was passiert denn, wenn die uns im Bus umkippen?“, fragt einer von ihnen seinen Chef Hermann. Der meldet das Problem weiter nach Berlin. Also wird für Hilfe gesorgt. Hinter den Bussen werden Einsatzfahrzeuge des Roten Kreuzes fahren. Doch die müssen ja erst kommen. Bis der Tross losfährt, vergeht wieder Zeit.

Die Flüchtlinge werden also nach der Ankunft in Eisenhüttenstadt wieder nach Schönefeld gefahren und dann von dort aus mit weiteren Bussen an ihre Zielorte gebracht. Einen letzten Moment der Aufregung gibt es dann noch in der Nacht, als die Flüchtlinge endlich in der Knobelsdorff-Kaserne untergebracht sind. Alles musste ja schnell gehen, da prüfte keiner so genau, wohin die Menschen eigentlich zugewiesen werden. Stunden nach dem Einzug machen Helfer und Verantwortliche eine Entdeckung, die sie aufschrecken lässt. In mehreren Räumen stehen noch alte Waffenschränke. Zugeschlossen, immerhin. Und, nach hektischer Prüfung, leer.

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