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Cansel Kiziltepe hat noch kein Büro im Bundestagsgebäude. Deswegen nimmt sie ihren Laptop überall hin mit.

© Davids

Nach der Bundestagswahl: Die Neue und der Alte - Schichtwechsel im Parlament

Es war ihr Traum, einmal eine Rede vor dem Deutschen Bundestag zu halten. Nun hat Cansel Kiziltepe den Sprung ins Parlament geschafft. Für Lars Lindemann heißt es Abschiednehmen. Er hat seinen Sitz verloren. Bei beiden steht das Leben nun Kopf.

Sie hat schon geträumt, wie sie unter den großen grauen Adlerschwingen steht und ihre erste Rede im Bundestag hält. Wenn sie davon erzählt, verengen sich die Augen, ein wenig Verlegenheit kriecht in ihre vorsichtig tastende Stimme. „Ich muss dann sehr gut sein.“ Das wird ein großer Moment in ihrem Leben sein, wahrscheinlich der größte. Und alle Bekannten, Verwandten und Freunde werden ihr zuschauen, auf der Zuschauertribüne oder vor dem Fernseher. Cansel Kiziltepe vertritt künftig das deutsche Volk im Bundestag, besonders das Kreuzberger und Friedrichshainer Volk, dort ist ihr Wahlkreis. Sie tritt noch leise auf, bewegt sich unauffällig wie die vielen Mitarbeiter, Wachleute und Referenten, die zwischen Jakob-Kaiser-Haus und Reichstag hin- und herlaufen, am Tag 16 nach der Wahl, 14 Tage vor der Konstituierung des neuen Bundestags. Am Fahrstuhl spricht sie dann jemand mit „Hallo, Frau Abgeordnete“ an. Es folgt eine Umarmung, für ein paar Sekunden scheint sie zu schweben. Gefeiert hätten sie ihren Einzug in den Bundestag, am Wahlabend und noch Tage danach, erzählt sie. „Meine Eltern sind total stolz.“

Migrationshintergrund, Arbeiterfamilie - der Aufstieg war schwierig

Eine türkischstämmige Familie aus dem Kreuzberger Wrangelkiez, „Migrationshintergrund, Arbeiterklasse“, da war der Aufstieg keine ausgemachte Sache. Auch politisch nicht. Den Wahlkreis konnte sie gegen den grünen Platzhirschen Christian Ströbele nicht gewinnen und ihr 5. Platz auf der SPD-Landesliste bot auch keine Sicherheit. Schwarzes Kostüm, kurze Stiefel, lange gelockte Haare, zwei Taschen baumeln an ihr, die eine fürs Make-up, die andere für den Laptop, ihren Miniaturarbeitsplatz, solange noch keine Büros zur Verfügung stehen. Sie würde gern in die Räume ihres verstorbenen Mentors Ottmar Schreiner einziehen, aber darüber muss der Fraktionsvorstand befinden. Schreiner war sieben Jahre lang ihr Chef, daher kennt sie die Abläufe im Bundestag gut. Auch politisch möchte sie in die „großen Fußstapfen“ des Sozialpolitikers treten und gerne auch mal gegen den Parteistrom schwimmen. „Ich will meine Ideale nicht verlieren.“ Die sich abzeichnende schwarz-rote Koalition findet sie schon mal grundfalsch.

Keine Zeit für Freunde, Sport und Familie

So ein paar Wochen nach der Wahl fühlt sie sich noch nicht wie eine Volksvertreterin. „Hey“, sagt sie, wenn sie ein bekanntes Gesicht sieht. Im Minutentakt wird sie von Leuten beglückwünscht, die sie aus der Schreiner-Zeit kennt, Mitarbeiter von Politikern, wie sie es war. Es wirkt freundlich-familiär, keine harten Bandagen im Kampf um Pfründe und Einfluss.

Dabei kann sie kämpfen, wenn es drauf ankommt. Sie weiß, dass die bevorstehenden Jahre im Parlament auch Entbehrungen mit sich bringen. „Keine Freizeit mehr, weniger Freunde treffen, weniger Sport machen.“ Auch ihre kleine Familie, sie ist verheiratet und hat eine Tochter, wird gemeinsame Zeit entbehren.

Bisher sind die Termine noch überschaubar. Sitzung parlamentarische Linke, danach Fraktionssitzung, anschließend nach Hause, ihren 38. Geburstag feiern.

Wird sie Ströbeles Erbe antreten?

Einen Tag später wird sie ihre ersten Mitarbeiter einstellen, ganz alleine, ohne Personalrat oder Frauenbeauftragte, sie lacht mit einem dunklen, samtenen Timbre, lässt sich in die Lehne ihrer Sitzbank in der Mitarbeiterkantine fallen. Gerade hatte sie noch das Mitbestimmungssystem bei Volkswagen gelobt, ihrem bisherigen Arbeitgeber. In Wolfsburg war sie für volkswirtschaftliche Analysen zuständig, ganz ihr Fachgebiet. Ihr Chef dort habe sie ungern gehen lassen, sich aber gleichzeitig mit ihr gefreut. Sie hat jetzt ein „ruhendes Arbeitsverhältnis mit Wiedereinstellungszusage“. Sehr sozial, dieser Arbeitgeber. Dabei ist Kiziltepe zuversichtlich, in vier Jahren das Direktmandat zu holen. Wenn Ströbele mit 78 Jahren in den verspäteten Ruhestand geht.

Lars Lindemann - Abschied mit Postkarten

Lars Lindemann schreibt jedem, den er in seiner Zeit als Parlamentarier kennengelernt hat, ein paar persönliche Abschiedsworte - handschriftlich
Lars Lindemann schreibt jedem, den er in seiner Zeit als Parlamentarier kennengelernt hat, ein paar persönliche Abschiedsworte - handschriftlich

© Thilo Rückeis

Die Bilder sind schon abgehängt, das meiste ist bereits in Kartons verpackt. Auf dem Schreibtisch liegt ein Hausausweis. „Lars Lindemann“, steht darauf: „Ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages“. Lindemann saß seit 2009 für die FDP im Parlament. Seit dem Sturz unter die Fünf-Prozent-Hürde packen die Mitarbeiter und Abgeordneten hier zusammen. Viele sind medial abgetaucht, frustriert vom Wahlergebnis. Lindemann ist noch da. Auch für ihn, wie für die ganze Partei, war es ein schwerer Schlag, wie er sagt. Aber er möchte sich ordentlich aus dem Parlament verabschieden. „Mit Haltung“, sagt er, den Wählerwillen respektierend.

Die erste Legislatur reichte nur zum Kontakteknüpfen

Vor sich im Büro hat er einige schwarze Mäppchen gestapelt. Darin sind hunderte Visitenkarten archiviert. Menschen, die er in seiner Zeit als Parlamentarier kennengelernt hat. Mit Tintenfässchen und Füllfederhalter schreibt er jedem von ihnen eine Postkarte. Ein, zwei persönliche Sätze. „Jeder, für den es nichts Besonderes ist, im Bundestag zu sitzen, der wäre hier falsch“, sagt er. Die Zeit hat ihn geprägt, das gibt er zu. Auch, dass es ihn schmerzt, dass er nicht weitermachen kann. Als Neuling im Bundestag, da könne man doch die Ergebnisse der Arbeit erst im fünften oder sechsten Jahr sehen. Die erste Legislatur reiche oft gerade einmal, um Kontakte zu knüpfen.

Mit diesem Ausweis darf Lars Lindemann weiterhin die Räumlichkeiten des Bundestages betreten.
Mit diesem Ausweis darf Lars Lindemann weiterhin die Räumlichkeiten des Bundestages betreten.

© Thilo Rückeis

Lindemann jammert nicht. Jedenfalls nicht über den Wähler. „Wir haben viele unserer Ziele nicht richtig erklären können. Dann kann man sich nicht beschweren, wenn man auch die Quittung dafür kriegt“, sagt er. Gesundheitspolitk, Versorgungssicherheit, ordentliche Löhne. Das waren seine Themen. Hängen blieb in der Öffentlichkeit oft nur, was die FDP alles nicht wollte. Etwa den Mindestlohn. Die Partei, so sieht es Lindemann, verstrickte sich in Kleinkriege über das Wie, marktwirtschaftliche Mechanismen und Vorgehensweisen, anstatt die liberale Idee dahinter zu kommunizieren. „Die Führungspersönlichkeiten in der FDP tragen dafür große Verantwortung“, sagt Lindemann. „Aber auch ich nehme mich aus dieser Verantwortung nicht aus.“

Auch die Mitarbeiter brauchen neue Jobs

Zu seiner Verantwortung gehört nun auch, seine Mitarbeiter in andere Arbeit zu vermitteln. Bis Ende dieser Woche sollen die Büros leer sein. Lindemann selbst wird dann weiter als Anwalt arbeiten. Außerdem ist er Geschäftsführer des Spitzenverbandes Fachärzte Deutschland. „Ich werde weiterhin Gesundheitspolitik machen. Ich fühle mich an Dinge, für die ich gewählt wurde, länger gebunden als vier Jahre“, sagt er. Politisch muss sich nun aber auch die Berliner FDP neu aufstellen. Alexandra Thein im EU-Parlament ist die einzige verbliebene Abgeordnete des Landesverbandes. Kein Sitz im Bezirk, kein Sitz im Land oder im Bund. Damit brechen auch Organisationsstrukturen weg. Die Willensbildung in der Partei kann nun nicht mehr über Fachausschüsse organisiert werden, findet Lindemann. „Da können soziale Netzwerke eine Rolle spielen. Da kann man auch durchaus mal einen Blick auf die Piraten werfen“, sagt er. Es wäre eine kleine Revolution in der Partei.

Berliner FDP braucht neues Gesicht

Deswegen sieht Lindemann das Ausscheiden aus dem Bundestag, rückblickend betrachtet, auch als Chance: „5,2 Prozent wären nicht geeignet gewesen, auf die personellen und inhaltlichen Neuerungen hinzuwirken, die jetzt notwendig sind“, sagt er. Als Martin Lindner 2011 Chef der Berliner FDP wurde, hätten alle gedacht, dessen Qualitäten könnten die Partei aus der Krise führen. Nach dieser Bundestagswahl müsse man feststellen, dass das nicht funktioniert habe. „Die Partei braucht ein neues Gesicht“, sagt Lindemann. Seines wird im Bundestag erst einmal fehlen. Nur, dass er wiederkommen will, das weiß Lindemann schon. Mit einem richtigen Ausweis. Nicht nur für Ehemalige.

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