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Helfer versorgen am in Berlin wartende Flüchtlinge vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) mit Heißgetränken.

© dpa

Nach der Lageso-Lüge: Leben mit der Wirklichkeit

Auch Menschen, die Flüchtlingen helfen, verhalten sich manchmal falsch. Aber es verbietet sich, den Fall am Lageso zu generalisieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ein Mensch, von dem es hieß, er sei gestorben, lebt, doch statt Erleichterung herrscht Fassungslosigkeit. Das Entsetzen über die Tat des Flüchtlingshelfers, der das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, wiegt schwerer als die Freude darüber, dass es eben nur das war – ein Gerücht. Prompt breitet sich Häme aus. Fast genüsslich werden Politiker zitiert, die sich zu früh zu weit aus dem Fenster gelehnt, sich maßlos empört oder tieftraurig gezeigt hatten. Pariert wird die Schadenfreude durch Selbstgerechtigkeit. Nicht etwa diejenigen, die vorschnell geurteilt hatten, seien für die Aufregung verantwortlich, sondern jene, die ein Klima schufen, in dem Gerüchte gedeihen können. Es hätte ja sein können, dass ein Flüchtling starb, weil er vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) krank geworden war. Ob Möglichkeit oder Faktum ist in dieser Lesart egal. Absurder geht’s kaum.

Auch die Helfenden sind vor Zumutungen nicht gefeit

Die deutsche Flüchtlingspolitik ist eine Zumutung. Das Wort ist wertneutral gemeint. Die Fliehenden haben Strapazen ausgestanden, Leid und Elend erlebt. Hier bei uns – was für sie die Fremde ist – werden sie nicht ungeteilt willkommen geheißen. Rassisten verüben Brandanschläge, auf Demonstrationen werden die Zufluchtsuchenden wegen ihrer Herkunft oder Religionszugehörigkeit als Bedrohung dargestellt. Außerdem müssen sie sich zurechtfinden, neu orientieren, Sprache und Gesellschaftsordnung lernen. Tausende von freiwilligen Helfern unterstützen sie dabei. Das lässt hoffen.
Auch die Helfenden sind vor Zumutungen nicht gefeit. Sie werden als naiv verspottet, erhalten Hassmails, gehen oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Dabei geraten Weltbilder ins Wanken. Wer je an die Effizienz der deutschen Bürokratie geglaubt hatte, wird in Berlin schnell zum Zyniker. Und natürlich entspricht kaum ein Flüchtling dem Ideal vom mülltrennenden, frauenrechtsbewussten Mitbürger, der bloß noch nicht entschieden hat, ob er lieber zum Christopher Street Day geht oder zum Karneval der Kulturen.

Wenn Weltbilder wanken, kann das verstörend sein – oder erkenntnisfördernd. Leider tendieren in einer ideologisch überhitzten Debatte wie der Flüchtlingspolitik viele Menschen dazu, die Wirklichkeit zugunsten des Restbestandes an eigener Weltanschauung auszublenden. Die in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten verübten Verbrechen durften nicht sein, weil sie die Vorurteile der Flüchtlingsgegner zu bestätigen schienen. Das folgte der Devise: Was dem Widersacher nützt, muss geleugnet werden. Man kann das als taktisches Verhältnis zur Wahrheit bezeichnen.

"Jemand in unserer Mitte hat gelogen"

Im Lageso-Fall galt dieselbe Devise umgekehrt: Was dem Gegner schadet, muss möglichst rasch hinausposaunt werden. Ob’s stimmt, kann ja später noch geprüft werden. Damit jedoch rutschen die Helfer in Richtung des Niveaus von unbelehrbaren Fremdenfeinden, die gezielt Gerüchte über angeblich von Asylbewerbern vergewaltigte deutsche Frauen streuen. Das Internet ist voll davon.
Es ehrt die Initiative "Moabit hilft", dass sie ihre Fehler umgehend eingestanden und ohne Relativierung benannt hat: "Jemand in unserer Mitte hat gelogen." Das ist ein klarer, mutiger Satz, der in dieser Form nie einem AfD- oder Pegida-Vertreter über die Lippen kam, wenn er mit abstrusen Verschwörungstheorien von seinesgleichen konfrontiert wurde.
Ja, es war eine Lüge, die den anderen Helfern schwer geschadet hat. Denn das Ehrenamt lebt vom guten Beispiel und der Ansteckung. Jeder, der hilft, trägt zum Image der Helfer insgesamt bei. Vielleicht ist es notwendig, auch bei diesem Kreis genauer hinzusehen, nach Eignung und psychischer Stabilität zu fragen. Die Zumutungen der Flüchtlingsarbeit sind manchmal nur schwer zu ertragen.

Es verbietet sich, den Fall zu generalisieren

Doch es ist nur ein Fall, und es verbietet sich, ihn zu generalisieren. Das Gerücht, schreibt Karl Kraus, "hat mit eigenen Augen gehört, was niemand gesehen, und mit fremden Ohren gesehen, was niemand gehört hat". Vorsicht also vor jeder Art von Gerücht! Gerade in hysterischen Zeiten bietet allein die Wirklichkeit wirklichen Halt.

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