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Nah beieinander: Schülerinnen und Schüler vor der Abiprüfung im Jahr 2018 (Symbolbild).

© Bernd Wüstneck/dpa

Update

Nach Protesten von Schülern und Schulleitern: Scheeres verschiebt MSA- und Abiturtermine

Die Bildungsverwaltung pochte bislang auf Abiturprüfungen für Tausende Schüler vor Ostern. Jetzt erfolgte wegen der Infektionsgefahr ein Umdenken.

„Wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten“, lautete einer der Schlüsselsätze in der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin. Mit einigen Tagen Verspätung hat dieser Satz jetzt auch die Senatsverwaltung für Bildung erreicht: „Wegen der Corona-Pandemie sind weitreichende Einschränkungen zur Vermeidung sozialer Kontakte unabdingbar. Vor diesem Hintergrund hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nun entschieden, die Abiturprüfungen für die Zeit vor den Osterferien abzusagen und auf einen späteren Termin zu verschieben“, teilte die Verwaltung am Samstagnachmittag mit.

Dies gelte auch für alle Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA), die jetzt noch vor den Osterferien durchgeführt werden sollten. Dieser Schritt sei auch deshalb notwendig, weil das Land Berlin in den nächsten Tagen alle öffentlichen Ansammlungen von mehr als zehn Menschen untersagen werde. Alle schriftlichen Abiturprüfungen mit zentralen Prüfungsaufgaben, deren Termine vor den Osterferien liegen, würden auf den jeweiligen Nachschreibetermin verlegt.

Trotz aller bereits getroffenen Vorkehrungen für die Prüfungen hinsichtlich des Mindestabstand könne derzeit nicht sichergestellt werden, „dass sich die Prüflinge vor oder nach der jeweiligen Prüfung in Gruppen versammeln, um sich auszutauschen“. Viele Jugendliche seien sich der Ernsthaftigkeit der Lage noch nicht bewusst und suchten die Nähe zu ihren Mitschülerinnen und Mitschüler. Genau dies aber solle aus Gründen des Infektionsschutzes verhindert werden.

Erste Schulleiter hatten schon Konsequenzen gezogen

Genau davor hatten Schülervertreter und Schulleiter seit Tagen gewarnt, ohne merklich damit durchzudringen. Allerdings hatten erste Schulen bereits von sich aus ihre für kommende Woche geplanten Präsentationsprüfungen abgesagt. Danach begannen weitere, sich auch gegen die zentralen Abiturklausuren zu wehren, die nach den Plänen von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) bislang als fest galten – bis sie am Sonnabend einlenkte.

Vorschlag: "Keine weitere Prüfung und dennoch das Abitur“

Die Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren (VOB) nannte die Entscheidung der Senatorin „verantwortungsvoll“. Es sei den Abiturienten zu wünschen, dass auch für die restlichen Abiturprüfungen „jetzt“ eine Entscheidung gefällt werde, schließlich hätten die Abiturienten Zukunftspläne – auch für die Zeit nach der Coronakrise, mahnte der Vorsitzende Ralf Treptow: „Sie sollten diese Pläne durch eine mutige Entscheidung ermöglichen“, appellierte er an Scheeres, denn „wir können in der Krise nicht weiter nur auf Sicht fahren“.

Treptow
Ralf Treptow leitet das Rosa-Luxemburg-Gymnasium und die Vereinigung der Oberstudiendirektoren des Landes Berlin.

© Kai-Uwe Heinrich

Treptow rät, „im Kalenderjahr 2020 unter den jetzigen Bedingungen zu einer Entscheidung zu kommen, die keine weitere Prüfung erfordert und dennoch das Abitur ermöglicht“. Der VOB habe entsprechende Vorschläge „lange unterbreitet“. Nach Informationen des Tagesspiegels wird in Fachkreisen längst nicht mehr ausgeschlossen, das Abitur auf Grundlage der Noten aus den vier Oberstufensemestern zu vergeben – ohne Prüfungen.

Die Begriffe „Notabitur“ und "Kurzabitur" fallen

Diesen Vorschlag hatte auch der Leiter des Steglitzer Fichtenberg-Gymnasiums, Andreas Steiner, bereits gegenüber dem Tagesspiegel genannt. Ausdrücklich als „Privatperson“ äußerte er zwei Möglichkeiten, „wenn es keinen Schulbetrieb vor Juni geben würde“:

Ein weiteres Szenario beschreibt der Lichtenberger Fachseminarleiter und Lehrer Robert Rauh: "Aufgrund der Corona-Krise, von der wir nicht wissen, wann sie endet, plädiere ich dafür, den Schülern ein Kurzabitur zu erteilen, indem die Schüler bundesweit nur in zwei Fächern geprüft werden. Das müsste die Kultusministerkonferenz (KMK) für ganz Deutschland beschließen, damit es zu keinen Benachteiligungen kommt".

"Den MSA aussetzen", lautet ein weiterer Vorschlag

Der Bildungsexperte, der schon etliche Jahrgänge durch das Abitur begleitet hat, betonte: "Natürlich wünsche ich unseren Schülern nicht, dass sie die Schule mit einem Corona-Abitur verlassen, aber wenn jetzt nicht mutig entschieden wird, dann stürzen die Schulen im Frühsommer in ein organisatorisches Chaos, unter dem vor allem die Abiturienten leiden werden." 

Zudem empfiehlt Rauh, darüber zu diskutieren, den MSA in diesem Schuljahr auszusetzen: "Alle Schüler*innen der 10. Klasse erhalten ihren Abschluss auf der Grundlage des letzten Haljahreszeugnisses". Dazu würde Berlin keine Zustimmung der KMK benötigen.

Es geht um rund 40.000 Prüflinge

Ab 16. März standen für rund 25.000 Zehntklässler Präsentationsprüfungen an. Die übrigen MSA-Prüfungen waren schon verschoben worden. Zudem sollten Ende März und Anfang April rund 15.000 Abiturienten in etlichen Fächern derzentrale und dezentrale Prüfungen schreiben. Die dezentralen Termine können die Schulen selbst festlegen, die zentralen nicht. Somit galt für die zentralen Prüfungen das Diktum der Bildungsverwaltung vom Mittwoch, wonach die Termine, die vor den Osterferien liegen, nicht verschoben werden sollten.

Ein Schulleiter nannte die Planung „unverantwortlich“

Das aber hätte bedeutet, dass sich in größeren Gymnasien und Sekundarschulen 50, 60 oder gar mehr als 100 Schüler gleichzeitig einfinden müssten. „Die treffen unweigerlich im Foyer und auf den Fluren aufeinander, bevor wir sie anschließend auf mehrere Räume verteilen“, mahnte ein Lehrer. Und dann würden sie unweigerlich noch dicht zusammenstehen und über die Prüfung reden. „Ich halte die Prüfungen vor den Osterferien für unverantwortlich“, hatte nicht nur Andreas Steiner gemahnt, bevor die Entscheidung der Senatorin fiel.

Kennt sich mit dem Abitur aus: Andreas Steiner leitete das Andreas-Gymnasium bevor er zum Fichtenberg-Gymnasium wechselte.
Kennt sich mit dem Abitur aus: Andreas Steiner leitete das Andreas-Gymnasium bevor er zum Fichtenberg-Gymnasium wechselte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Rund 20 Aufsichtspersonen würden benötigt

Um den wegen der Infektionsgefahr geforderten Mindestabstand von 1,5 Meter einzuhalten, könnten nur wenige Schüler pro Raum sitzen. Daraus resultiert ein weiteres Problem: In großen Schulen würden rund 20 Aufsichtspersonen benötigt, da pro Raum noch eine Ablösung verfügbar sein müsste. Auch das dürfte nicht einfach sein, da sich viele Lehrer krankgemeldet haben, ihre eigenen Kinder betreuen oder über 60 Jahre alt sind.

Die über 60-jährigen und somit gefährdeten Lehrer aus den Schulen fernzuhalten, sei zwar richtig, aber nicht vereinbar mit dem Ziel, derart viele Abiturienten zu beaufsichtigen, merkt eine pädagogische Koordinatorin an, die mit der Abwicklung des Abiturs betraut ist. Falls jemand plane, die Abitur- und MSA-Prüfungen im Mai nachzuholen, werde dieses Problem absehbar weiter bestehen.

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Die gleichen Schulleiter, die plötzlich eine Verschiebung der Klausuren forderten, hatten noch am Freitag dagegen gestimmt, die Klausuren zu verlegen, die nach den Osterferien angesetzt waren: Wie berichtet, hatten 165 von 170 Abitur-Schulen dieses Signal gegeben. Ist das nicht ein Widerspruch?

„Jetzt, genau jetzt müssen wir die Erkrankungsraten stoppen“

„Nein“, sagt ein Schulleiter. Die Situation sei jetzt viel heikler: Berlin befinde sich gerade in einer Phase, in der die Infektionsfälle extrem stiegen. In Italien habe es 800 Tote an einem Tag gegeben. „Jetzt, genau jetzt müssen wir alles tun, um die Erkrankungsraten zu stoppen, bevor eine sehr harte Ausgangssperre verhängt werden muss.“ Im Mai müsse man dann weitersehen.

Selbst Schulen, die noch vor der Merkel-Rede an den alten Abläufen festhalten wollten, hatten es sich danach anders überlegt: „In den Universitäten ist alles gestoppt. Warum an den Schulen nicht?“, fragte ein Schulleiter, bevor die neue Linie der Senatorin bekannt wurde.

Der Landesschülerausschuss mit seinem 17-jährigen Vorsitzenden Miguel Góngora forderte seit Tagen vehement die Verschiebung aller Abiturprüfungen. Er bekam dafür auch aus der SPD Unterstützung. Die bildungspolitische Fraktionssprecherin Maja Lasic etwa meinte, eine generelle Verschiebung bringe „mehr Klarheit und Planungssicherheit im Sinne unserer SchülerInnen“..

Der Landesschülerausschuss kämpfte für die Verschiebung

Der Landesschülerausschuss mit seinem 17-jährigen Vorsitzenden Miguel Góngora forderte seit Tagen vehement die Verschiebung aller Abiturprüfungen. Auf einer dreiseitigen Stellungnahme hatten sie alle Argumente zusammengetragen - und warteten doch auf eine direkte Reaktion der Senatorin vergebens. Die Stellungnahme können Sie hier lesen (pdf-Datei).

Miguel Góngora, 17, ist Vorsitzender des Landesschülerausschusses und macht dieses Jahr Abitur.
Miguel Góngora, 17, ist Vorsitzender des Landesschülerausschusses und macht dieses Jahr Abitur.

© privat

Stattdessen bekam das höchste Schülergremium zunehmend von außen Unterstützung - auch aus der SPD. Die bildungspolitische Fraktionssprecherin Maja Lasić hatte dem Tagesspiegel bereits am Donnerstag gesagt, eine generelle Verschiebung bringe "mehr Klarheit und Planungssicherheit im Sinne unserer SchülerInnen".

Sie votierte aber nicht nur für eine Verschiebung, sondern auch dafür, die Entscheidung nicht den Schulen zu überlassen: „Die flexible Handhabe des Abiturtermins wird zur Verunsicherung bei Schulleitungen und Lehrkräften vor Ort beitragen. Und verunsichert sind seit letzter Woche alle auch so genug“, lautete die Ansage der Abgeordneten.

SPD-Bildungsexpertin warnt vor der "Infektionskurve"

An dieser Haltung hielt Lasić auch fest, nachdem am Freitag das gegenteilige Votum der Schulen bekannt geworden war: Die promovierte Biochemikerin sagte, sie könne „antizipieren“, wohin sich die Infektionskurve innerhalb der nächsten Wochen entwickeln werde.

[Alle aktuellen Entwicklungen zum Coronavirus in Berlin lesen Sie in unserem Newsblog.]

Auch der Lichtenberger SPD-Vorsitzende Kevin Hönicke hatte sich entsprechend bei Twitter positioniert: "Auch ich unterstütze diese Sicht aus politischem aber auch schulpraktischen Gesichtspunkten!", kommentierte er den Standpunkt des Landesschülerausschusses. Es bringe nichts, "wenn wir jetzt Tausende Schülerinnen und Schüler durch Berlin schicken sowie Lehrkräfte. Außerdem fehlt Schulen enorm Personal, da über 60-Jährige zu Hause bleiben müssen!", nannte auch er eines der organisatorischen Probleme.

Berlin geht einen Sonderweg

Ein solche Situation wie in Berlin gab es in keinem anderen Bundesland: Brandenburg hat sich zwar auch für einen "flexiblen" Weg der Terminfindung nach Ostern entschieden, aber dort waren - anders als in Berlin - keine zentralen Prüfungen vor Ostern angesetzt. Bayern und Mecklenburg-Vorpommern hatten schon am Dienstag und Mittwoch entschieden, alle Prüfungen zu verschieben, einige Bundesländer schreiben zum Teil zwar schon jetzt, haben aber klarere Regelungen getroffen als Berlin.

Die Hoffnung, dass dieses Schuljahr noch normal zu Ende geführt werden kann, wird schwächer: "Es wird immer wahrscheinlicher, dass das Schuljahr verloren geht", sagte ein erfahrener Schulleiter am Freitag. Der frühere Bundestagsabgeordnete Philipp Lengsfeld votiert in einem Beitrag für den Tagesspiegel dafür, die Sommerferien zu verkürzen, damit die Grundschüler die Basiskenntnisse erlangen können.

Vertretungskräfte erst vor dem Aus - dann doch nicht

„Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt“, bilanziert ein Verwaltungsleiter diese Woche, die am Dienstag mit den Schulschließungen in die große Unsicherheit führte. Die habe sich noch dadurch vergrößert, dass die Schulleiter per Rundschreiben aufgefordert wurden, „ab sofort und bis auf Weiteres“ keine Verträge mit Vertretungskräften im Rahmen der Personalkostenbudgetierung abzuschließen: „Als wüsste die Verwaltung nicht, dass unsere PKB-Kräfte nicht selten sogar als Klassenleiter arbeiten“, ärgerte sich ein Grundschulleiter.

Diese Klassenleiter müssten Kontakt mit ihren Klassen halten und für sie da sein, wenn der Unterricht wieder anfange. „Weltfremd und ahnungslos“ sei die Anweisung. Glücklicherweise habe aber ein „Shitstorm“ der Schulleiter dazu geführt, dass die Anweisung zurückgenommen worden sei, berichtete ein Betroffener am Freitagabend.

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