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Berlin: Nachbar Schulz wird nach Mülheim: Ein Künstler organisiert für einen Neuköllner Frührentner eine Reise mitsamt Sessel und Tapete, damit er sich "nicht fremd fühlt"

Christian Hasucha topft den Alltag um, wie es andere Leute mit Blumen tun. Unlängst ließ er in zwei westdeutschen Kleinstädten jeweils ein Stück Straßenland verpflanzen - mitsamt Pollern, Mülleimer und Fahrradständer.

Christian Hasucha topft den Alltag um, wie es andere Leute mit Blumen tun. Unlängst ließ er in zwei westdeutschen Kleinstädten jeweils ein Stück Straßenland verpflanzen - mitsamt Pollern, Mülleimer und Fahrradständer. 25 Quadratmeter Puhlheim befanden sich plötzlich in Brauweiler - und umgekehrt. "Die haben sich furchtbar aufgeregt", erzählt Hasucha. Dabei wolle er mit seiner Arbeit "keine Skandale provozieren", sondern nur "Ausstanzungen" der Wirklichkeit herstellen, die er anderswo wieder einsetzt. So will er es auch jetzt wieder machen - allerdings nicht mit Asphalt, sondern mit seinem Nachbarn. Ihn will er mitsamt Wohnzimmer "ausstanzen" und für zwei Wochen in eine Fußgängerzone von Mülheim an der Ruhr verfrachten.

Ein sonniger, mit Kopfstein gepflasterter Innenhof an der Karl-Marx-Straße. Hier, in den Räumen einer ehemaligen Bäckerei, befindet sich Christian Hasuchas Atelier. Schräg über den Hof begann er vor Monaten, den 49-jährigen Frührentner Günter Schulz zu beobachten. Denn der hat zwei große Leidenschaften: Er kocht gerne - "am liebsten Eintopf mit Mohrrüben oder Bohnen" - und vor allem steht er jeden Tag am Fenster, um das Geschehen auf dem Hof zu beobachten. Auf der Fensterbank liegen zwei Kissen bereit, auf die er sich mit verschränkten Armen stützt. Dann schweift sein Blick zur hundertjährigen Ulme, die neben einem alten Toilettenhäuschen steht. Und er beobachtet seine Nachbarn, die den Hof überqueren. Das Mietshaus mit seinen zwei langgestreckten Seitenflügeln ist bis heute ein Dorf geblieben: "Hier weiß jeder über jeden Bescheid."

"Auf dem Lande" habe er die ersten Jahre seines Lebens verbracht, erzählt Schulz, doch mittlerweile sei er "Neuköllner seit rund 40 Jahren." Die meiste Zeit davon verlebte er in diesem Haus, mal allein, mal mit einer Freundin oder seiner mittlerweile verstorbenen Mutter. Und schlug sich durchs Leben: Als Kraftfahrer lieferte er Möbel aus, dann verdingte er sich in einer Setzerei. Heute muss Schulz mit 500 Mark Frührente über die Runden kommen. In seiner Wohnung erinnert vieles an früher: An der Wand gegenüber von seinem Bett hängt ein Rothirschfell - "aus Ungarn", wie er betont. Neben dem Fenster erinnert eine Keramikschale an den letzten Urlaub in Jugoslawien, "das war vor vielen Jahren". Auf einem aufgeschlagenen Buch aus Wachs, das daneben hängt, steht ein "Rezept für ein glückliches Leben" geschrieben. "Aus dem Katalog bestellt", erläutert Schulz. Einen unglücklichen Eindruck macht der 49-Jährige mit den grauen, zum Zopf gebundenen Haaren allerdings nicht. Er könne ja "kaum aus dem Haus gehen, ohne nach zehn Metern jemand grüßen zu müssen." Und so mancher seiner täglichen Einkäufe endet mit Bekannten beim Bier um die Ecke.

Christian Hasucha sorgt sich jetzt darum, dass sich Gewohnheitsmensch Schulz, bei dem stets pünktlich um sechs Uhr der Wecker klingelt, bei seiner Verpflanzung ins ferne Mülheim wohl fühlt. "Damit es für Günter dort nicht so fremd ist", hat er sich schon mal an den ruhrgebietstypischen Trinkhallen in der Gegend umgesehen, wo Schulz ab Mitte September zwei Wochen verbringen wird. Auf einem Gerüst in exakt fünf Metern Höhe wird ein genau rekonstruierter Ausschnitt seines Wohnzimmers mitsamt Fenster installiert. Hier soll er seinen Tag ganz normal verbringen, wie zu Hause auch. Die Mülheimer, sagt Hasucha, hätten allerdings nicht viel von dem Besuch aus Neukölln. Denn in seinem authentischen Wohnzimmer besuchen kann man den Exoten Schulz nur nach Anmeldung beim örtlichen Kulturamt.

Johannes Metzler

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