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Nachfolge von Heinz Buschkowsky: Unterwegs durch Neukölln mit Franziska Giffey

Franziska Giffey wird wahrscheinlich die erste Bürgermeisterin in Neukölln. Auf einer Tour durch den Bezirk zeigt sie, wo die Probleme liegen - und wo sich Erfreuliches tut.

Treffpunkt Neukölln-Arcaden. Die designierte Bürgermeisterin, roter Mantel, schwarze Hose, Aktentasche über der Schulter, kommt gerade von einer Besprechung in der Helene-Nathan-Bibliothek, im obersten Stockwerk des Einkaufszentrums gelegen. Noch ist Franziska Giffey als Bildungsstadträtin unterwegs. Sie steht jetzt mitten im Lärm der Karl-Marx-Straße und berichtet von ihrem gerade absolvierten Termin.

Bibliothek, das klingt nach Ruhe und langen Reihen ordentlich beschrifteter Bücher. Aber nicht hier. „Die Mitarbeiterinnen haben ein Sicherheitsproblem“, fasst Giffey das Gespräch in der Bibliothek zusammen. Denn statt lesehungriger Kinder kommen vor allem ganze Gruppen von Jugendlichen, die die Bibliothek als Aufenthaltsort benutzen: „Zu Hause haben sie keinen Platz, draußen ist es kalt, also gehen sie in die Bibliothek“. Hinzu kommen Menschen, die stören und pöbeln. Die wenigen Mitarbeiterinnen sind überfordert. Jetzt muss eine Lösung gesucht werden.

Mit dem Problemlösen kennt die Sozialdemokratin sich aus: Seit viereinhalb Jahren ist sie Bildungsstadträtin in einem Bezirk, der etliche Negativstatistiken anführt. „80 bis 90 Prozent der Kinder in Nord-Neukölln stammen aus Familien, die von Sozialtransfers leben“, sagt Giffey, bevor sie ihren Mantelkragen hochschlägt und die Arcaden hinter sich lässt. Sie will jetzt das andere Neukölln zeigen, das Neukölln, das Hoffnung macht. Dazu geht es erstmal in die Boddinstraße. Hier hat sich schon viel verändert: studentische Cafés, frisch sanierte Altbauten. Muss sie als zukünftige Bürgermeisterin nicht gegen die um sich greifende Wohnraumvernichtung durch Ferienwohnungen zu Felde ziehen – so wie Kreuzberg? „Wir haben nicht genug Personal, um die Einhaltung des Zweckentfremdungsverbots zu kontrollieren“, winkt Giffey ab, und man sieht ihr an, dass sie größere Sorgen hat.

Zum Beispiel die „Schrottimmobilien“: heruntergekommene Häuser, in denen teils 70 Gewerbe auf einmal angemeldet sind oder in denen hunderte Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben. Das eine ist ein Fall für die Gewerbeaufsicht, das andere für den Sozialstadtrat sowie Bau- und Wohnungsaufsicht. Eigentlich. Aber sie haben keine Handhabe. „Das Gewerbe- und das Melderecht müssten verschärft werden“, sagt Giffey. „Es müsste konkrete rechtliche Eingriffsgrundlagen geben, um gegen Hauseigentümer vorzugehen, die Menschen durch unseriöse Vermietungspraktiken ausbeuten und die Häuser vollkommen verwahrlosen lassen.“ beschreibt Giffey den Ausweg. Aber das sei nur auf Landes- und Bundesebene möglich. Der Bezirk bemüht sich, das Gebiet aufzuwerten.

Der Bezirk bemüht sich, den Rollbergkiez aufzuwerten

Inzwischen nähert sich Heinz Buschkowskys Wunschnachfolgerin einem Projekt, dass sinnbildlich für die Veränderung des Bezirks steht: der ehemaligen Kindl-Brauerei an der Werbellinstraße. Bevor Giffey den Backsteinbau erreicht, kommt sie an einer Baustelle vorbei. „Neukölln lebt und blüht“, steht auf einem Schild, das einen modernen Wohnpark zeigt. „50 Prozent der Wohnungen sind schon verkauft“, berichtet Giffey. Droht da etwa die Gentrifizierung des Rollbergviertels? Erste Anzeichen gibt es, aber noch überwiegt das Armselige; die ramschige Karl-Marx-Straße ist ja nicht weit. Andererseits: Der Bezirk bemüht sich, das Gebiet aufzuwerten – etwa mit dem Umbau der Karl-Marx-Straße, in den bis 2026 um die 30 Millionen Euro fließen werden.

Und: Direkt an das schicke Wohnprojekt schließt sich das „Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst“ an. Hier hat ein Schweizer Kunstsammlerehepaar mehrere Millionen Euro investiert. Jetzt wird auch noch die „Kindl-Treppe“ gebaut, die einen Durchgang zur Karl-Marx-Straße schafft. „Riechen Sie das?“, fragt Giffey und deutet auf den Schriftzug „Privatbrauerei am Rollberg“: In einem Teil des Backsteinbaus wird wieder Bier gebraut.

Von der nach Maische duftenden Brauerei geht Giffeys Blick zum großen Logo der Arbeitsagentur Neukölln, die in Sichtweite an der Mainzer Straße liegt. Die Agentur verwaltet das Hauptübel: eine Arbeitslosenquote von 23,4 Prozent, in Nord-Neukölln 36 Prozent. Die Frage, wie es sich anfühlt, Bürgermeisterin eines Armenhauses zu werden, trifft dennoch auf Unverständnis. „Ich würde Neukölln nicht als Armenhaus bezeichnen. Wir haben viele Menschen mit neuen Ideen, innovativer Kraft und viel Potenzial“. Überhaupt sei sie ja in die SPD eingetreten und in die Politik gegangen, um Missstände bekämpfen zu können.

Wo die Missstände liegen, weiß Giffey genau – aus ihrer Arbeit als Bildungsstadträtin: „60 Prozent der Erstklässler haben eine Entwicklungsverzögerung, 40 Prozent eine Sprachstörung“, zählt sie die prägnantesten Defizite auf. Am liebsten würde sie eine Kitapflicht verhängen, womit sie auf einer Linie mit SPD-Fraktionschef Raed Saleh liegt.

Aber anders als er hält sie nichts von kostenlosen Krippen für alle: „Viele Eltern sind bereit, für den Krippenplatz zu zahlen“, ist Giffey überzeugt. Sie würde die Beiträge für eine bessere Qualität und höhere Erziehergehälter nutzen, schlägt sie vor, während sie sich ins Auto setzt: Es ist jetzt doch etwas zu kalt, um durch den Schnee bis zum Columbiadamm zu laufen. Dorthin soll es jetzt gehen, denn dort liegt Neuköllns schönste Moschee.

Vom Kopftuchtragen im Grundschulalter hält sie nichts

„Berlin türk Sehitlik camii“, steht am Eingang. Ein paar junge Leute gehen über den Hof, während Giffey sich umsieht. Mit ihren blonden Haaren wirkt sie in dieser Umgebung ziemlich exotisch, aber niemand spricht sie an: Die Moschee ist auch für Touristen ein beliebtes Fotomotiv. So unbefangen wie eine Touristin ist Giffey allerdings nicht: Tags zuvor hatte sie wieder einmal klargemacht, dass sie nichts vom Kopftuchtragen im Grundschulalter hält und dass sie ganz froh ist, wenn Schulleiter und Lehrerinnen dem etwas entgegensetzen und versuchen, den kleinen Mädchen möglichst lange die volle Bewegungsfreiheit zu bewahren.

Neben der Moschee steht ein Wagen mit Aufklebern eines islamischen Vereins. Giffey deutet auf ein altes Plakat, das für ein Sportfest wirbt. „Sie wollten dort auf einem unserer öffentlichen Sportplätze ein Fußballfest veranstalten und auch Gebetsteppiche ausrollen. Das Fußballspiel fand statt, die religiösen Handlungen haben wir verboten“, sagt Giffey, und man kann sich gut vorstellen, dass zu dem „wir“ auch Buschkowsky gehörte.

Unten auf dem Plakat ist ein Logo gedruckt. Es sieht aus wie das Brandenburger Tor, nur, dass statt der Quadriga ein Halbmond darüberschwebt. „Auf Sportplätzen werden immer wieder muslimische Frauen von anderen Muslimen angesprochen. Da bekommen sie gesagt, wie sie sich zu verhalten und zu kleiden haben“, beklagt Giffey. Für sie sind das Signale, dass sich in Teilen der Gesellschaft etwas zum Unguten verändert: „Diese Leute leben in einer anderen Welt.“

18 Moscheen gibt es in Neukölln. „Sie spielen eine wichtige Rolle für die Menschen, die hier leben“, sagt Giffey. Sie will mit den Moscheevereinen Kontakt pflegen, „aber der Boden von allem muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein. Moscheen, die vom Verfassungsschutz observiert werden und eine menschen- und vor allem frauenverachtende und Gewalt verherrlichende Sicht auf die Welt haben, sind keine Partner.“

Was Sie sich inhaltlich vorgenommen hat? Integration soll ein Schwerpunkt bleiben, darüber hinaus will sie die Wirtschafts- und Tourismusförderung in den Vordergrund stellen: „Ich will den Bezirk positiv vermarkten“. Dafür soll es eine spezielle Anlaufstelle im Rathaus geben. Auch der Wohnungsbau soll mehr in den Fokus rücken.

Zwar wird Giffey  jetzt das Bildungsressort abgeben, aber aus den Augen verlieren, will sie es nicht. Es treibt sie um, dass  zum Heer der Neuköllner Arbeitslosen Jahr für Jahr Hunderte Jugendliche hinzukommen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, „weil wir nicht zugeben, dass wir mehr tun müssen“. Soll heißen: Noch mehr fördern, noch mehr Ganztagsschulen. Aber warum bleibt sie dann nicht Bildungsstadträtin als Bürgermeisterin – so wie ihr Parteifreund Stefan Komoss in Marzahn-Hellersdorf? „Den Bildungsbereich einfach so mitmachen, das funktioniert nicht, wenn von 44 von 62 Schulen  Brennpunktschulen sind“.  Für ihre Nachfolge gibt es zwei Kandidaten, zwischen denen sich die Kreisdelegiertenversammlung am 2. März entscheiden muss.

Schloss Britz, der Körnerpark und Alt-Rixdorf sind ihre Lieblingsorte

Zum Schluss geht es dann noch mal in die Gegend um die Schillerpromenade. Dort liegt am Herrfurthplatz die evangelische Genezareth-Kirche, deren interkulturelles Zentrum Kontakt zur Sehitlik- Moschee pflegt. Giffey sitzt jetzt im „Café Selig“ neben der Kirche, wärmt sich bei einer Kürbissuppe auf und erzählt von ihren Neuköllner Lieblingsorten, zu denen das Schloss Britz gehört, der Körnerpark und der Richardplatz in Alt-Rixdorf. Manchmal ist sie dort mit ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn. Aber das sind die Ausnahmen. Die Regel als Bildungsstadträtin sind 60-Stunden- Wochen zwischen Aktenbergen, Sitzungen und Ortsterminen. Als Neuköllner Bürgermeisterin und Finanzstadträtin dürften es noch mehr Stunden werden.

Heute aber will sie früher los: Einmal in der Woche holt sie ihren Sohn von der Kita ab. Kaum steht sie auf, wird sie schon von zwei jungen Cafébesucherinnen ins Gespräch verwickelt – was ihr jetzt immer öfter passiert, seit bekannt wurde, dass sie Neuköllns erste Frau auf dem Bürgermeisterposten werden soll. Sie ist auch schwer zu übersehen: Es gibt nicht viele, die ihre blonden Haare so gekonnt mit ein paar kleinen Haarspangen zur Ordnung bringen wie Giffey. Dabei sieht sie gleichzeitig mädchenhaft und trotzdem unbeirrbar aus.

Und Buschkowsky? Der musste am Freitag noch viele Akten erledigen und Hände schütteln. „Wir mussten etliche Besucher abwimmeln“, erzählt seine Sekretärin. Ab Montag führen sein Stellvertreter, Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU), und Giffey die Amtsgeschäfte. Am 15. April entscheidet die BVV über die Nachfolge.

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