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Anita Ockel (1923-2017)

© privat

Nachruf auf Anita Ockel (Geb. 1923): Ein Analytiker jedoch hält zumeist den Mund

Ihr Gewerbe: Seelenzergliederung. Sie führte ihre Praxis in der eigenen Wohnung - was nicht der reinen Lehre entsprach. Ihr Problem aber war ein anderes: Sie sprach selbst sehr gern.

"Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!“, ruft Hans Castorp, der gerade erfahren hat, dass auf dem „Zauberberg“, im Sanatorium „Berghof“, ein Dr. Krokowski mitwirkt, der eben genau dies mit seinen Patienten treibt: Seelenzergliederung. Es schüttelt Hans, vor Heiterkeit, doch auch vor Schreck, denn in das Innere eines Menschen einzudringen, erscheint ihm unerlaubt.

Ist es das? Vielleicht. Vielleicht aber wären zu viele Leute schon erstickt an den Verhedderungen in ihrer Seele, hätten sie ihr Inneres weiterhin verborgen. Was die Menschen alles sahen, hörten, irgendwie aushielten, nicht aushielten, während des Krieges, nach dem Krieg. Wie sie sich versuchten zu retten in Stummheit, in Verdrängung. Wie sie die Seelenstörungen an ihre Kinder weitergaben. Es wurde zu wenig geredet. Es musste geredet werden.

Anita staunte, als sie diese andere, diese sprechende Welt betrat. Sie hatte sich verliebt, in Helmut, und Helmut hatte sie seinen Eltern vorgestellt. Die Gespräche in diesem Haus: erstaunlich. Über die Komplexität der Seele, über Verschüttetes. Es war nicht so, dass Anitas Elternhaus ein einfaches gewesen wäre. Ihr Vater praktizierte als Arzt, die Sommer verbrachte sie bei den Großeltern und deren Dienstboten in Königstein und Wiesbaden. Doch ihre Mutter litt: eine Krankheit, eine falsche Diagnose, falsche Medikamente. Nicht leicht für das Kind, das deutliche Wissen, etwas stimmt nicht, ohne zu wissen, was nicht stimmt. Umso wichtiger der Vater, ein runder, humoriger Mann, der ihr Selbstvertrauen gab, ihr riet, nicht einfach Krankenschwester zu werden – sie hatte an der Front verwundete Soldaten versorgt –, sondern Medizin zu studieren, es sei doch besser, „keine Oberschwester über sich zu haben“. Sie folgte dem Rat des Vaters und begann 1942 mit dem Studium, bestand drei Jahre darauf das Physikum. Doch dann, eine Wirkung der Stunden in Helmuts Elternhaus, ein immer stärker zu Tage tretender Wunsch: „Die Sehnsucht nach Vertiefung, nach Erkennen der inneren Zusammenhänge, die Ausrichtung nach dem Du.“

Anita Ockel (1977)
Anita Ockel (1977)

© privat

Vor dem Du steht das Ich. Sie entschied, die Fachrichtung zu wechseln, weg vom Kinderarzt, hin zur Seelenerkundung, zur Seelenzergliederung. Sie durchlief eine Psychoanalyse, mit allem Drum und Dran, mit dem Wiederauftauchen der Kinderängste um die Mutter, mit Überlegungen zu ihrer neuen Lebenssituation, Hochzeit, erste Tochter, Schwangerschaft mit der zweiten, Berlin, das ihr und Helmut schon vor dem Mauerbau politisch zu unsicher schien, diese plötzliche Untätigkeit, nur zu Hause nach den Jahren des Studiums, der Arbeit in einer Kinderklinik.

Sie zogen nach Göttingen, wo Anita ihren Facharzt in Psychoanalyse machte, wo Helmut, selbst Psychiater, eine Stelle am Landeskrankenhaus annahm, auf dessen Gelände, unter all den Patienten, die Familie wohnte. Dann weiter nach Hannover; Helmut leitete ein psychotherapeutisches Institut; Anita eröffnete ihre eigene Praxis.

Eine Praxis in ihrer Wohnung. Was streng genommen nicht ganz in Ordnung war, denn der Patient soll ja, wenn er auf seinen Analytiker trifft, ein unbeschriebenes Papier vorfinden. Unbeschrieben aber war hier nichts. Immer wurde das Wohnzimmer benutzt; oftmals öffneten die Töchter den Patienten, die sich auf die blaue Familiencouch legten, daneben Anita in einem roten Sessel. Eine Sache gab es, die sie manchmal ein wenig ermüdete: Sie sprach sehr gern, was nicht schwatzen, sondern interessante Gespräche in Gang bringen hieß. Ein Analytiker jedoch hält zumeist den Mund. Der Patient soll im Lauf der Zeit selbst auf die Dinge kommen. Einmal kam ein Mann zu ihr, der schwieg, 50 Minuten pro Sitzung, ein ganzes Jahr lang. Also schwieg auch Anita. Nach dem Jahr begann der Mann zu sprechen.

Freiheit lassen. Darum ging es. Was ebenso die Töchter spürten. Anita zerrte nicht an den Zügeln. Barbara war 15, Renate 12, als sie zu einem Musikfestival nach Düsseldorf durften, allein hintrampen, allein zurück. Geht in die Welt, und die Töchter gingen, früh schon, mit dem Vertrauen und der Wärme der Eltern. Aber auch umgekehrt: Bleibt zu Hause, wenn ihr den Kindergarten nicht mögt, wir können so viel Schönes zusammen machen. Anitas Fantasie, Basteln, Backen, Musizieren, Spiele einzig mit bunten Knöpfen ersinnen.

Neues probieren in der Therapie, „themenzentrierte Interaktion“, die Arbeit in der Gruppe, Streiten lernen, ein ganzer Paarkurs-Marathon, 48 Stunden lang, ohne Schlaf, dafür mit Berührung, mit zornigen Gefühlsausbrüchen. „Unsere einengende Rüstung brach endlich auf. Wir hatten doch unsere Jugend nicht. Ich hab einen Soldaten geküsst, aber der ist drei Wochen später gefallen.“

Doch Emotion erschöpft zugleich. „Jetzt ist mein Interesse erlahmt“, sagte sie mit 65. „Betritt jemand meine Praxis, weiß ich sofort, welche Art Kindheit er hatte.“ Ein bisschen Humor, einerseits. Andererseits braucht eine Seele auch ein wenig Ruhe, will nicht ohne Unterlass zergliedert werden.

Anita hatte viel Zeit und Muße am Ende, gezwungenermaßen, denn ihre Nieren waren schwach, was Dialyse bedeutete, drei Mal pro Woche, jeweils fünf Stunden, 17 Jahre lang. Sie lamentierte nicht, sondern hörte den ganzen Dostojewski, von Thomas Mann die vier Bände „Joseph und seine Brüder“ und den „Zauberberg“.

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