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Birgit Schlehufer (1948-2019)

© privat

Nachruf auf Birgit Schlehufer (Geb. 1948): Quatsch mit den Kindern

Wäre sie doch nur im Hort geblieben. Doch sie konnte nicht „Nein“ sagen, auch nicht, als die Partei sie rief.

Die Schule, in ihrem engeren Sinn, war nichts für sie. Birgit ging zwar gerne hin, vor allem aber wegen der Pausen und der Freunde. Jahr für Jahr rettete sie sich mit Ach und Krach in die nächste Klasse. Jahr für Jahr bescheinigten ihr die Lehrer eine große Diskussionsfreude, gute kommunikative und soziale Fertigkeiten. Immer, wenn es etwas zu organisieren gab, war sie dabei, bei Mathe oder den Fremdsprachen dagegen eher nicht.

Zusammen mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern lebte sie in einem kleinen Haus in der Adlershofer „Gagfah-Siedlung“. Für die vier Kinder gab es ein Zimmer, darin vier Betten, ein großer Wandschrank und davor immer ein riesiger Klamottenberg. Das Kinderleben spielte sich vor allem draußen ab. Autos gab es kaum.

Fragt man, wie Birgit als Kind war, erzählen ihre Schwestern diese Geschichten. Birgit kam von der Schule, die Oma erwartete sie und platzte mit der Neuigkeit heraus, dass der Bruder endlich auf die Welt gekommen sei. Birgit stimmte ein Freudengeheul an, warf den Ranzen in die Luft und tanzte auf der Straße. Gefühle mussten sofort raus.

Sie hatten einen Kaufmann an der Ecke, bei dem sie anschreiben konnten, wenn das Geld knapp war. Birgit ging hinein, nahm sich ihre Portion Süßigkeiten und sagte: „Mama zahlt später.“ Mit zwölf ging sie allein ins Kino, in den Film „Agatha, lass das Morden sein“, den man erst ab 16 gucken durfte. Am Abendbrottisch berichtete sie stolz von ihrem Coup. Ihr Vater verdonnerte sie zu einem Strafaufsatz, Thema: „Was mir der Film ‚Agatha, lass das Morden sein’ für mein späteres Leben gebracht hat.“

Birgit fand die FDJ gut, den Sozialismus und die DDR sowieso: eine gerechte Welt, in der für alle gesorgt war, so hatte sie das gelernt. Birgit fand auch den Charlie gut. Der war Koch in einer angesagten Kneipe in Ost-Berlin und ihre erste, große Liebe. Doch er trank zu viel, und hatte außerdem schon eine Frau und eine Tochter. Immer brauchte er Geld, das Birgit ihm gab. Immer musste sie darauf hoffen, dass er Zeit für sie hatte. Bis ihr die Geduld ausging.

Als erstes lernte sie Stenotypistin, also Sekretärin, ein Beruf, der am allerwenigsten zu ihr passte. Sie wechselte schnell in den Schulhort und machte eine Ausbildung zur Erzieherin. Hier war sie glücklich. Überhaupt war sie mit Kindern immer glücklich. Und die Kinder mit ihr. Sobald sie auftauchte, hingen sie an ihr. Birgit hörte ihnen zu, machte Quatsch mit ihnen, ging in den Tierpark und auf den Rummel.

Zu ihrer Nichte sagte sie: „Wir fahren so lange Riesenrad, bis dir schlecht wird.“ Der Nichte war das recht, und am Ende war Birgit schlecht. Für Jahrzehnte und für Generationen von Kindern aus ihrer Familie war sie die lustige „Tante Birgit“ mit der man Pferde stehlen konnte.

„Wäre sie doch nur im Hort geblieben“, sagt ihre Schwester. Doch Birgit konnte nicht „Nein“ sagen, als die Partei sie rief. Ende der 70er oder Anfang der 80er kam sie zur Bezirksparteischule, und arbeitete von nun an für die SED. Was sie genau dort machte, erzählte sie nie. Die Partei verhalf ihr zu ihrer Wohnung in Treptow, Platte, zweiter Stock, 32 Quadratmeter, Kochnische und Balkon. Sie reiste in die sozialistischen Brüderländer, hatte ein gutes Einkommen, hatte alles, was sie brauchte. Nur eine Familie mit eigenen Kindern hatte sie nie. Das hat einfach nicht geklappt. „Bei ihr war es immer Sekt oder Selters“, sagt eine ihrer Schwestern. Einen Mann, der all ihren Ansprüchen genügte, fand sie nicht, dafür viele Liebschaften.

Die Wende rollte über das Land und ließ eine völlig überraschte Birgit zurück. Sie hangelte sich von einer ABM in die nächste, passte mal auf Kinder in Kreuzberg und dann in Marzahn auf, betreute Jugendliche im FEZ in der Wuhlheide. Zwischendrin war sie immer wieder arbeitslos. Das Geld war knapp und Birgit überlegte sich dreimal, was sie kaufte. Es war eine schwere Zeit.

Mit 54 fand sie eine feste Stelle im Nachtdienst in einem Wohnheim für Autisten, 30 Stunden die Woche, immer von 21.30 bis 6.30 Uhr. Endlich ein Gehalt, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Rentenanspruch. Sieben Jahre arbeitete sie hier, und immer war sie es, die angerufen wurde, wenn Dienstlücken zu füllen waren. Sie sagte halt niemals „Nein“. Die Bewohner testeten ihre Grenzen, wollten dies, machten das, Birgit fiel es schwer sich durchzusetzen. Einer von ihnen verprügelte sie dann, versetzte sie in Angst und Schrecken.

Als sie in Frührente ging, stockte sie ihr kleines Geld, 800 Euro, mit einem 450- Euro-Job in einem Altenheim auf – wenn auch das Geld nicht der einzige Grund war: „Was soll ich den ganzen Tag zu Hause, ich kann doch nicht von morgens bis abends Fenster putzen oder Freunde besuchen. Wenn ich zur Arbeit komme, freuen sich die Leute, und das gibt mir Kraft.“

Sie verreiste mit Freundinnen, war bei allen Familienfesten dabei, half bei der Volkssolidarität, ging auf Demonstrationen gegen Rechts.

Als sie 70 war, diagnostizierten die Ärzte einen Bronchialkrebs, unheilbar. Sie meinte: „Es ist ja nur ein kleiner Krebs.“ Und hoffte. Wollte doch noch eine Taufe und eine Einschulung erleben. Als es zu Ende ging, hatte sie Angst. Fragte, wie das sei, zu sterben. Schrieb aber auch in ihre Patientenverfügung, dass sie nicht mehr auf die Intensivstation wollte.

Einmal noch kamen die ganze Familie und alle Kinder zu ihr ans Bett. Zum Neffen sagte sie: „Wir sehen uns dann auf der 1. Mai-Demo.“ Am 17. April starb sie.

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