zum Hauptinhalt
Charlotte Ernst, bekannt als "Charlie", in jungen Jahren

© privat

Nachruf auf Charlotte Ernst (Geb. 1937): Der Tresen als Bühne

Dieser Busen, diese Beine! Von überall her kamen sie, um sie zu sehen. Marius Müller-Westernhagen, Udo Lindenberg, Walter Giller ließen sich von ihr gerne einschenken. Sie war von großer Eleganz – auch beim Schrubben.

Von Maris Hubschmid

Wenn du die flachlegst, geb’ ich einen aus, sagte mein Kumpel. Er gab einen aus. Es erwuchs eine Beziehung, die zehn Jahre währte: intensiv, vollbusig, mit viel Wein, Musik, Literatur, bildenden Künsten. Charlie: attraktiv, sprudelnd, humorvoll, Berlinerin. Erfüllter kann Jugend nicht sein. Jeder sucht sich etwas, das die Schatten fernhält. Sie war es für mich und ich vielleicht auch ein wenig für sie.

Der Mann, von dem ihre Freundinnen sagen, dass er ihre große Liebe war, hat diese Zeilen geschrieben. Als sie einander kennen lernten, war sie 27. Ihre Beziehung war ein Rausch, doch er war nicht frei für sie. Sie schwieg darüber. Und taufte ihn „Mucker“. So, wie sie auch seinen Vorgänger genannt hatte, um dessentwillen sie nach Hamburg gezogen war. Mucker vermutet, auch nicht der letzte Mucker gewesen zu sein.

Unklar blieb, ob sie Geschwister hatte

Wer war sie eigentlich? Von ihrem früheren Leben weiß kaum einer. Zur Welt, so viel steht fest, kam Charlie, als man sie als Gesamtkunstwerk für eine Hamburger Szenekneipe entdeckte. Geboren wurde Ingeborg Charlotte Hildegard Ernst 1937 in Charlottenburg. Ihr Vater spielte Nebenrollen am Schillertheater, heißt es, sie habe einen Bruder gehabt – hatte sie nicht eine Halbschwester? Er glaube nicht, dass sie Geschwister hatte, sagt Mucker.

Sie sprach eben nicht gern über ihre Vergangenheit. Nur manchmal gab sie Fragmente preis: Ließ sich von Hannelore nach Berlin fahren, zeigte ihr Straßen, aber wollte nicht aussteigen. Um am Theater zu sein, hatte sie Bühnenschneiderin gelernt. Am Kurfürstendamm bewohnte sie eine Mansarde, ein kleines dunkles Zimmer, doch an der feinsten Adresse. Das war ihr wichtig. Damals schon.

Charlie hatte ein Auge für Qualität. Feine Stoffe, antike Möbel. Gab üppiges Trinkgeld, auch wenn sie selbst kaum welches hatte. Sie war adelig von Format, sagt Mucker. Nur die Zeit war es nicht.

Dieser Busen, diese Beine! Charlie flirtete mit allen Männern. Aus der Staatsoper, aus den Kammerspielen kamen sie, um sie zu sehen. Marius Müller-Westernhagen, Udo Lindenberg, Walter Giller ließen sich von ihr gerne einschenken. Bis ihre donnernde Stimme verkündete: Feierabend! Der Tresen war ihre Bühne, sie jederzeit die Hauptdarstellerin. Hätte sie ihre Stimme nur ausbilden lassen, sagt Mucker. Sie wäre eine weltbekannte Altistin geworden.

Gedichte, die er vorlas, verriss sie gnadenlos

„Die Gurke“, Hamburger In-Kneipe am Mittelweg: Fast alle ihre Freunde lernte sie dort kennen. Männer und Frauen beeindruckte sie gleichermaßen. Lieschen vom Land nahm sie Heiligabend mit aufs Dorf. Wie die guckten, auch der Pastor, der Gottesdienst hatte schon begonnen, als das Portal aufging und Charlie eintrat! Langer Mantel, Pelzkappe, das rote Haar locker hochgesteckt.

Selbstbewusst war sie auch in ihrem Urteil. Gedichte und Geschichten, die Mucker ihr vorlas, verriss sie gnadenlos. Gefiel ihr eine Inszenierung nicht, verließ sie die Vorstellung demonstrativ. Sie liebte die Oper, das Pathetische an der Musik, das Schwärmerische. Mucker schlug die Becken. Der Hausinspektor überreichte die Gästekarten persönlich, und fiel dabei jedes Mal förmlich in ihr Dekolletee.

Die "Grüne Gans" sollte ihr Projekt werden

Die Beine in aufreizenden Strumpfhosen, das rote Haar locker hochgesteckt: So war Charlie.
Die Beine in aufreizenden Strumpfhosen, das rote Haar locker hochgesteckt: So war Charlie.

© privat

Henning hatte eine Million übrig und wollte die beste Geschäftsführerin für seine Bar haben. Die „Grüne Gans“ sollte ihr Projekt werden: Die Ambitionen waren hoch, die Decken niedrig. Also beschlossen sie, das Fundament tiefer zu legen. Das alte Gemäuer musste abgestützt werden – und sie verhoben sich. Eröffnung wurde noch gefeiert, doch bald war das Geld alle. Es gab Schulden und Streit. Der Weg zurück war verbaut.

„Jetzt bin ich irritiert“, sagte die Frau, die ihr die Tür öffnete. – „Sie suchen doch eine Putze?“ Charlie zog den feinen Mantel aus, wurde Haushaltshilfe. Sie gewann schnell einen großen Kundenkreis. Medienleute, Schriftsteller, feine Häuser rund um die Außenalster. In einer angesehenen Physiotherapiepraxis war sie Empfangsdame. Für Helmut und Loki Schmidt bestellte sie immer das Rauchertaxi.

Um Geld bat sie ihre Freunde nie

Beim Bügeln erzählte sie den Kindern: von neuen Büchern, Dirigenten, ihrem Kater Willy. Sie liebte das Familienleben der anderen, war überall Teil davon. Als die Söhne heranwuchsen, legten sie sich unter den Tisch, um ihre netzbestrumpften Beine besser betrachten zu können. Sie war von großer Eleganz, auch beim Schrubben.

Um Geld bat sie ihre Freunde nie. Nur Naturalien nahm sie. Die langen dunklen Zigaretten. Pralinen. Whisky.

Der Rücken, das Herz – schon lange schluckte sie Tabletten. Doch sie beharrte darauf, weiterzumachen wie bisher. Bis sie auf einmal wegblieb, nicht mehr reagierte auf Anrufe und Karten.

Wollte sie nicht mehr gesehen werden? Als sie zu Zigaretten und Whisky auch das Morphium brauchte, immer dünner wurde? Nur zwei Freundinnen ließ sie noch teilhaben. Die eine schickte ihr eine Waage, versprach Rosen und Wein für jedes Kilo, das sie zunahm. Aber sie nahm im Krankenhaus, wohin sie immer öfter musste, alles wieder ab.

An ihrem 77. Geburtstag wollte sie niemandem mehr die Tür öffnen.

Zwei Monate später:

Mucker war da, Monika, Tina, Lieschen, Hannelore und einige andere. Es wurde eine Rede gehalten, Hermann Hesse gelesen. Sie trugen die Urne abwechselnd. War ein Armenbegräbnis je würdevoller? Die Freunde sahen einander zum ersten Mal. In Charlies Adressbüchlein stand unter jeder Telefonnummer, durch wen sie wen kennen gelernt hatte. Sie aber hatte es stets vermieden, die Menschen, die ihr nah waren, zusammenzubringen.

Die Friedhofsverwaltung drückte ein Auge zu

Ein Grabstein war nicht vorgesehen. Sie stellten einfach einen hin. Die Friedhofsverwaltung drückte ein Auge zu, weil sie darauf verzichteten, den vollen Namen zu nennen. Wozu auch? Der Name, den Männer sich einst verheißungsvoll zuraunten, ist mit goldenem Filzstift geschrieben: Charlie.

Vorbei – ein dummes Wort: Weitere Nachrufe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false