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Christel Kleinhans

© privat

Nachruf auf Christel Kleinhans (Geb. 1925): "Sie dachte sich wahrscheinlich nichts dabei"

Eine Bombe fiel, sie kam zur Hilfe und er auch, der Mann, der der ihre werden sollte. "Eigentlich", sagt er, „müsste man der Royal Air Force dankbar sein“

Da war nichts, kein erhöhter Blutdruck, keine Herzschwäche, keine andere Krankheit. Das Knie, gut, das war nicht mehr ganz intakt, sie bekam Akupunktur. Ihre seidige Haut jedoch, ihr immer noch dunkles Haar, der Schwung, die geistige Frische, alles wie gehabt. Sie sollte 93 sein? Schwer vorstellbar, ihrem Geburtsdatum nach aber war sie’s. Dann, an diesem Oktoberabend ein Unwohlsein im Magen. Sie rief sicherheitshalber den Arzt. „Ins Krankenhaus?“, sagte der, „die schicken Sie sofort zurück nach Hause.“ Und ging. Kurz darauf fiel Christel um und starb, von einem Moment auf den nächsten. Niemand weiß, warum.

Zehn Jahre zuvor klingelte bei ihrer Tochter auf Sylt das Telefon: „Ja, Mutti?“ – „Du, ich hab’ in Zeuthen gerade die Küche gestrichen.“ Christel war eben erst von der Leiter gestiegen und hielt womöglich den Pinsel in der Hand. Sorgen machte ihre Tochter sich nicht. Ihre Mutter war über 80, aber doch noch lange keine gebrechliche Person. In dem Haus in Zeuthen gab es eben ständig was zu tun.

Dorthin, in dieses Haus, ein paar Kilometer südlich von Berlin, ist sie 1938 gezogen. Mit zwölf ist sie mit ihren Eltern und Brüdern aus Pommern gekommen. Flüchtig kannte sie Siegfried, einen Jungen aus dem Ort, man sah sich ab und an. Ihre Leidenschaft waren die Zahlen, Addieren und Multiplizieren bereiteten ihr das größte Vergnügen. Der Vater, ein Viehagent, nahm jeden Dienstag einen Zug mit Schlachttieren für die Fleischer der Gegend in Empfang, und sie saß in einem behelfsmäßigen Büro und schrieb in kindlicher Schrift die Rechnungen. Klar, was sie werden wollte: Bilanzbuchhalterin.

Sie fuhr dann jeden Tag zur Fachschule in Königs Wusterhausen, und der Krieg rückte näher. Am 29. Dezember 1943 traf eine britische Bombe ein Einfamilienhaus in Zeuthen. Die Leute kamen zu Hilfe, auch Christel und Siegfried, sie bildeten eine Kette, gaben Stein für Stein weiter, und zufällig stand er neben ihr. Sie wechselten einige Worte und gingen dann gemeinsam, zusammen mit ihrem Bruder, nach Hause. Christel lief zwischen den beiden, hakte erst den einen unter, dann den anderen. „Sie dachte sich wahrscheinlich nichts dabei“, erzählt Siegfried lachend. „Aber ich!“ Sie wurden ein Paar. „Eigentlich“, sagt Siegfried, „müsste man der Royal Air Force dankbar sein.“

Er wurde im letzten Moment eingezogen und verwundet, kam wieder zu Kräften, studierte Maschinenbau, fand eine Anstellung bei Siemens und ein Zimmer in Siemensstadt in Spandau. Sie arbeitete bei der Reichsbahn und wohnte weiter in Zeuthen. Sie heirateten und besuchten einander an den Wochenenden, sie ihn im Westen, er sie im Osten. Doch ab 1952 konnten West-Berliner nicht mehr ohne Weiteres in die DDR einreisen, Christel allein musste sich auf den Weg machen, jeden Freitag. 1955 durfte sie ganz rüberziehen. Sie arbeitete weiter bei der Reichsbahn bis zur Geburt des ersten Kindes.

Im Sommer 1961 reisten sie im Käfer und mit Zelt nach Dänemark, kamen am 12. August zurück und erwarteten am selben Abend noch ihre Mutter und seine Eltern aus Zeuthen. Sie aßen und lachten und erzählten vom Urlaub, Siegfrieds Eltern fuhren irgendwann nach Hause, Christels Mutter blieb, um am nächsten Tag bei der großen Wäsche zu helfen. Und auf einmal war alles anders. Denn es hatte doch jemand die Absicht gehabt, eine Mauer zu errichten.

Christels Mutter wohnte nun auch in West-Berlin; Siegfrieds Eltern sahen sie erst 1964 wieder.

Christel kümmerte sich um die Kinder, zwei waren es inzwischen, sie kochte, kutschierte sie zum Schwimmen, zum Ballett. Und vermisste hin und wieder ihren Beruf. Sie begann, Sport zu treiben, rannte nach dem Tennis noch zehn Runden auf dem angrenzenden Sportplatz, bis zu ihrem 85. Lebensjahr. Sie zog sich gern gut an, Blazer, Tuch, Kette, alles aufeinander abgestimmt und besonders festlich an jedem 24. Dezember. Denn an einem 24. Dezember war sie auf die Welt gekommen, deshalb der Name Christel.

„Weihnachten, na ja“, sagt ihre Tochter, „wir feierten immer eher ihren Geburtstag.“ Um zehn mussten die Kinder tipptopp angezogen dasitzen, um elf klingelten die ersten Gratulanten und saßen dann mit Sekt und Häppchen in der Stube. Manche blieben bis in den heiligen Abend hinein, ausländische Siemens-Kollegen von Siegfried, die allein in Berlin waren. Zwei Inder, ein Nigerianer, ein Ägypter neben Kleinhans’ Weihnachtsbaum.

1991 bekamen sie das Zeuthener Haus zurück, sanierten es von Grund auf, schliefen monatelang auf Feldbetten, schufteten, planten, verhandelten mit den Handwerkern, vor allem Christel, der Zahlenmensch, der im Supermarkt an der Kasse den Gesamtbetrag aller Einkäufe immer schon ausgerechnet hatte. Der bis zum Ende alle Telefonnummern im Kopf hatte. Christel, die zu Siegfried gesagt hatte: „Wir können glücklich sein.“

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