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Berlin: Nachruf auf einen Prachtbaum

90 Jahre alt wurde die Pappel an der Gervinusstraße, dann ließ der Bezirk sie zersägen. Und die Anwohner trauern

Der Stumpf ist noch zu sehen. Fast einen Meter hoch ragt er aus dem Erdreich, wie ein nutzlos gewordener Sockel, wie die abgeschlagene Spitze eines Eisbergs. Ihn zu umrunden, braucht es acht Schritte. Die Mühe, ihn auszugraben, haben sich die Männer nicht gemacht. Oder sie trauten sich nicht, die Baumgeister noch weiter zu erzürnen.

Mit Motorsägen kamen sie eines Morgens auf den Spielplatz an der Gervinusstraße, um fachgerecht zu zerlegen, was seit Jahrzehnten der Stolz der Straße war. Gevierteilt haben sie ihn, „geschlachtet“, sagt Lioba Bischoff, die den Baum seit über 20 Jahren kannte. Als sie das Kreischen der Säge hörte, lief sie hinaus, beschwerte sich bei den Männern und fing an zu weinen. Die Kinder schickte sie los, um Hilfe zu holen, aber die Leute schauten nur fassungslos und traurig aus ihren Fenstern.

Darf man sich empören, wenn ein Baum fällt? Ist es gestattet, um einen Baum zu trauern? Ist es nicht völlig sentimental und kitschig, einer Pflanze wegen so einen Trara zu veranstalten? Gunter Theobald, der Nachbar von Lioba Bischoff, erinnert sich an viele Freitagabende geselligen Zusammenseins mit der großen Pappel. Dann saß er zur Erholung auf seinem Balkon, trank einen Rotwein und lauschte der Orchestermusik der zitternden Blätter. „Fast wie Brahms“, sagt er und lächelt. Er gibt zu, in seinem Innersten der deutschen Romantik verfallen zu sein. „So große Bäume haben etwas Magisches.“ Sie können von dieser magischen Energie auch etwas abgeben, findet Lioba Bischoff. Im Garten von Schloss Charlottenburg steht ein Baum, den sie gelegentlich mit den Armen umfängt, um von seinem Kraftfeld zu naschen. Mit der großen Pappel ging das nicht – der Stammumfang betrug fünf Meter.

Wenn sie ihn beschreiben sollen, den Baum, suchen seine Freunde vergeblich nach Worten. „Einfach ein prächtiger Baum“, sagt Herr Theobald. Von der Art, wie sie sonst nur auf dem freien Feld zu finden sind. 33 Meter Höhe und 23 Meter Breite maß die Pappel, eine „Populus Robusta“, Holzpappel. Auf 90 Jahre wurde sie geschätzt. Pappeln wachsen zügig, kümmern sich nicht weiter um die Qualität ihres Holzes und gelten deswegen als oberflächlich und schnelllebig. Mit dem Renommee von Eiche und Buche kann die Pappel nicht mithalten. Nur bei den Holländern hat sie nationalen Status wegen der Pantoffeln, die man aus ihrem Holz schnitzt.

Lena und Laura, die Kinder von Frau Bischoff, haben sich manchmal hinter dem Stamm versteckt oder unter den Ästen „ein Lager“ errichtet. Lena, die jüngere, ist immer wieder raufgeklettert. Die Borke war rau und voller Beulen, die man wie Stufen benutzen konnte. „Schön“ fand sie die Pappel. Und „gemütlich“.

Laura, die ältere, fürchtete sich eher davor, dass der Baum mal umfallen könnte. Da erzählt Gunter Theobald die Geschichte von der Frau, die bei aufkommendem Sturm auf einer Bank unter dem Baum gesessen und auf ihr Kind gewartet hatte. Als sie mit dem Kind gerade in der S-Bahn-Unterführung verschwunden war, brach ein großer Ast und zerschmetterte die Parkbank. „Der Baum war ziemlich gefährlich“, sagt auch Annemarie Tepper, die schon vor dem Krieg in der Gervinusstraße gewohnt hat. Frau Bischoff findet es allerdings „fadenscheinig“, den Baum dafür verantwortlich zu machen, wenn er im Sturm Äste verliert. Wenn ein Ast einen Menschen verletzt, sei nicht der Baum schuld, sondern der Mensch.

Die alte Pappel hat viele Äste verloren. Jedes Jahr kamen Männer vorbei und sägten an ihr herum. Versehrt sah der Baum zuletzt aus, wie ein Kriegsinvalide. Ein Baumgutachter wurde vom Bezirksamt beauftragt, den Gesundheitszustand zu erkunden. Die Diagnose fiel erschreckend aus. Die Pappel litt an „Kronenfäule“ mit der Folge akuter „Kronenbruchgefahr“. Der Pilzbefall habe zu einer „Morschung“ in den Astgabeln bis hinein in den Stamm geführt, so der Gutachter. Der Baum hatte „kaum noch Wachstumschancen“, sagt Christoph Maasberg vom Grünflächenamt.

Den Anwohnern, die täglich an ihm vorbeigingen, war die Altersschwäche gar nicht aufgefallen – im Gegenteil. Mehrere Damen, die den Baum sehr vermissen, beharren drauf, dass er kerngesund gewesen sei. Bis zuletzt.

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