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Nachruf auf Frieda Simon (Geb. 1910): Hauptsache beisammen

1935 floh sie nach Palästina. Dort, in einer Siedlung lernte sie ihren Mann kennen, einen Arzt aus Berlin Neukölln. 1956 kehrten sie nach Deutschland zurück. Im Flugzeug kamen ihr die Tränen – ein seltener Anblick.

Auf einer hellen Straßenecke im schlesischen Reichenbach stand, stolz und für jedermann sichtbar, das „Kontorhaus Hirsch“. Neben Uhren und Schmuck gab es darin eine „Elektrola-Abteilung“, in der Grammofonplatten mit klassischer Musik verkauft wurden.

In dieser Abteilung arbeitete Frieda Hirsch, Sprössling der jüdischen Eigentümerfamilie, die das Kaufhaus bereits in zweiter Generation betrieb.

Einige der Kunden kamen nicht nur um zu kaufen, sondern auch um gemeinsam mit Fräulein Frieda zu lauschen. Sie breiteten Partituren vor das Mädchen mit den schönen, rotbraunen Haaren und verglichen Notenwerk und Plattenaufnahme. Frieda freute sich an diesen Gesprächen über Musik und an dem leidenschaftlichen Ernst der Notenfreunde.

Sie selbst neigte nicht zu Schwermut oder Grübelei. Sie liebte es, ihren Vater auf die Messen nach Prag oder Wien zu begleiten, und sie liebte die Skifahrten im benachbarten Eulengebirge. Schon als kleines Mädchen raste Frieda an Stämmen und Schluchten vorbei, während die Eltern glaubten, der große Bruder würde sie begleiten. Mit 20 steuerte sie als erste Frau ein eigenes Auto durch Reichenbach.

Sie mochte die Freiheit. Doch wurde diese immer schmaler. 1935 erkannte Frieda den jungen Mann vor ihrer Tür kaum als ihren Bruder, so entstellt war er von den Schlägen der SA. Er emigrierte in die USA. Frieda, inzwischen Mutter einer kleinen Tochter, floh mit ihrem Kind nach Palästina.

1938 wagte sie sich noch einmal nach Europa, um ihre Mutter zu überreden, ihr zu folgen. Sie trafen sich in Marseille. Doch die Witwe wollte Reichenbach, die Stadt, in der ihr Mann begraben lag, nicht aufgeben. Spätere Nachforschungen ergaben, dass sie im Lager Lublin vergast wurde.

Frieda hatte nicht vor, zurückzukehren nach Deutschland. Sie zog in eine Siedlung nahe Tel Aviv. Der Boden war karg, die Siedler lebten von Hühnerzucht und Eierhandel.

Einer der Siedlungsgründer war der Arzt Dr. Hans Simon aus Berlin-Neukölln. Das Praxisschild, Symbol seiner Selbstbestimmtheit, hatte er nach seinem Berufsverbot 1933 in den Koffer gesteckt und hier in einer Anwandlung düsteren Humors an den Hühnerstall geschraubt. In dieser Praxis arbeitete Frieda jetzt als Helferin, zuständig für die Impfungen des Federviehs. Das war etwas anderes als klassische Symphonien über den Elektrola-Tresen zu dirigieren.

Und doch spielte die Musik weiter. Die Konzerte, die in Ramot Hashavim veranstaltet wurden, waren gut besucht, und wenn der Arzt auf seinem Harmonium spielte, klatschten alle Applaus. Am lautesten klatschte Frieda, die in Hans ihre große Liebe gefunden hatte.

1940 wurde die Hühnerpraxis geschlossen. Das Paar eröffnete ein Sanatorium auf dem Skopus-Berg in Jerusalem. Während Hans die Kranken medizinisch versorgte, versorgte Frieda sie mit guter Küche, soweit das möglich war in jener Zeit.

Immer wieder wurden Versorgungskonvois angegriffen. Die Briten versprachen zwar, die Familie bei akuter Gefahr rechtzeitig zu evakuieren, doch kamen sie erst in letzter Sekunde. Frieda schnappte sich einen Petroleumkocher, ein Radio für die Kriegsnachrichten und etwas Bettwäsche. Die Bilder, etwa von Liebermann oder Nolde, Dankesgeschenke von Patienten, blieben zurück und gingen verloren.

Vom umkämpften Berg brachte das britische Taxi sie in die umkämpfte Neustadt Jerusalems, in einen Alltag aus Bombenangriffen, Beschuss und Blockaden. Die Praxis, die sie hier eröffneten, wurde schnell zu einer Praxis für Trost und Hoffnung. Die Patienten, darunter viele aus Deutschland emigrierte Künstler und Intellektuelle, saßen häufiger im Wohnzimmer als im Behandlungsraum. Hier verabreichte Frieda ihre begehrte Seelenmedizin aus aufmunternden Worten und Selbstgebackenem. Auch für sie selbst gab es nichts Heilsameres als das Beisammensein. Ein Glas Senf war Anlass genug, ein Fest zu geben.

Hans Simon aber sehnte sich zurück nach Berlin. Das Klima strengte ihn an, das Ivrit auch. Er wollte nach Hause. Auch wenn das alte Praxisschild mittlerweile verloren war, trug er es in Gedanken doch weiter mit sich herum und wartete darauf, es wieder anzubringen.

So packte Frieda, die mit Hans zwei weitere Kinder bekommen hatte, 1956 erneut ihre Koffer. Als das Flugzeug Deutschland überflog, sah der jüngste Sohn, inzwischen zwölf Jahre alt, seine Mutter weinen, ein seltener Anblick.

Da Hans unbedingt wieder in einen Arbeiterbezirk wollte, fand das Schild seinen Platz schließlich in Wedding. Viel Geld ließ sich hier nicht verdienen, doch die Menschen kamen gerne zu dem gründlichen Arzt und der herzlichen Frau hinter dem Sprechstundentresen. Die strikte Trennung von Privat und Beruf galt hier ebenso wenig wie in Jerusalem. Auf Gemeinschaft kam es an, hier wie dort.

Hans Simon starb 1974. Auch wenn sie ihren Mann vermisste, einsam wurde Frieda nicht. Bis zuletzt trafen die Menschen sich gerne mit der freundlichen alten Dame. Auf den Nationalsozialismus kam sie von sich aus nie zu sprechen. Doch ließ sie sich, solange das möglich war, die Züricher „Weltwoche“ kommen. Ein wachsamer Außenblick auf Deutschland kann nicht schaden. Kurz vor ihrem Tod stellte ihr Sohn ihr einige Fragen und stellte sein Aufnahmegerät auf. Seine letzte Frage an die fast 103-Jährige: „Und wie geht es dir jetzt?“ Zu hören ist eine heitere Damenstimme: „Ich bin zufrieden. Ich habe doch so viel freudiges Denken.“ Anne Jelena Schulte

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