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Gerd Ballentin (1929-2018)

© privat

Nachruf auf Gerd Ballentin (Geb. 1929): Was doch alles hineinpasst, in ein Leben

Eine Jugend im Krieg, 26 Jahre Arbeit, 26 Jahre Ruhestand. Nachruf auf einen, der sich für die einsetzte, die weniger hatten

Der Anfang ist ein Fest. Der flirrende Blick, das flatterige Herz. Hände, die vorsichtig nacheinander greifen, Lider, die sich schließen vor Genuss. Erzähl mir deine Geschichte, sagt er, und du mir deine, sagt sie.

Jahrzehnte später ist das Fest vorüber, sie reichen sich die Butter über den Abendbrottisch, die Lider schließen sich nur noch müde, er sagt einen schmalen Satz, sie nickt stumm.

Doch gibt es auch ein Dazwischen: Jahrzehnte beieinander sein und lebendig bleiben, weil man sich ab und an trennt.

Zum Beispiel Gerd und Ursula Ballentin. Sie unternahmen ihre Reisen, in die Schweizer Berge, an die Nordsee, über lange Zeit gemeinsam, und es war schön, zusammen zu klettern, zusammen zu schwimmen. Aber dann wollte Ursula partout in den Süden und Gerd in den Norden. Ein unlösbarer Konflikt? Aber nein! Jeder, wie er mochte. Den Rest des Jahres verbrachten sie ja Seite an Seite. Sie fuhr in die Toskana, er bestieg ein Schiff in Norwegen. Ein Postschiff mit nur 200 Leuten an Bord, das tatsächlich noch Briefe und Pakete transportiert, unten in Bergen ablegt, die gesamte Westküste hochfährt, bis zur russischen Grenze.

Der Wind wehte, die Wellen schlugen gegen den Bug, Gerd stand an der Reling und dachte: Was doch alles hineinpasst, in solch ein Leben. 26 Jahre Arbeit und 26 Jahre Ruhestand. Eine Jugend im Krieg, in Karlshorst, zu acht, Vater, Mutter, drei Mädchen, drei Jungs, er, Gerd, der Älteste der Geschwister. Schulbildung bis zur achten Klasse, wie es für Menschen seiner Schicht vorgesehen war, Beginn einer Lehre als Handsetzer. Morgens, bevor er nach Tempelhof fuhr, ins Druckhaus des Ullstein-Verlags, der, arisiert, nicht mehr Ullstein-Verlag hieß, sondern „Deutscher Verlag“, trug er Zeitungen aus, bekam ein paar Mark, die sofort in die Familienkasse flossen. Für eine Fahrkarte blieb oft nichts übrig, oder die Bahn fuhr nicht, da die Straßen verwüstet waren nach einem nächtlichen Bombenangriff, weshalb er laufen musste, die ganzen zwölf Kilometer. Endlich angekommen, stieg er, um an die Setzkästen zu gelangen, auf eine Fußbank.

Wie klein ich war, dachte er, als er dastand, an Deck des Postschiffes. Und erinnerte sich an seine Erleichterung über das Ende des Krieges, die Möglichkeiten, die ihm nun offenstanden. Sein Wunsch, etwas für die kleinen Leute, die Arbeiter zu tun, wie selbstverständlich es für ihn gewesen war, in die IG Druck und Papier einzutreten. Er wusste ja, wie es sich anfühlt, zu den Unterprivilegierten zu gehören, die Enge zu Hause, drei schmale Zimmer für drei Generationen. Als er Ursula, eine Nachbarstochter, kennenlernte, als sie heirateten, eine Tochter bekamen, und immer noch mit der Uroma und der Oma auf den wenigen Quadratmetern in Karlshorst zusammenhockten. Die politischen Verhältnisse waren inzwischen andere, es gab zwei deutsche Staaten, und er wollte nicht mehr nur im westlichen Teil arbeiten, er wollte auch dort leben. Die Mauer stand noch nicht, Ausreiseanträge aber mussten trotzdem schon gestellt werden. Jener der Ballentins wurde abgelehnt, und ihre Ausweise eingezogen.

Also wechselten sie heimlich die Seiten mit nur einem Koffer, wohnten zehn Monate in einem einzigen Zimmer in Charlottenburg, bis sie eine 50-Quadratmeter-Wohnung in Zehlendorf fanden und dort die kommenden Jahrzehnte blieben. Bescheidene Verhältnisse trotz beruflichen Aufstiegs, von der gewerkschaftlichen Jugendarbeit zum Vertrauensmann zum Betriebsrat zum Bundesvorsitzenden der Handsetzer. Ab 1959 stand er an überhaupt keiner Maschine mehr, sondern arbeitete hauptamtlich für die Gewerkschaft, erst als Rechtssekretär, dann als stellvertretender Landesbezirksvorsitzender, ab 1969 als Berliner Vorsitzender. 1992 gab er sein Amt auf.

Wie viele Nächte ich mir um die Ohren geschlagen habe, dachte er und schaute auf das Nordmeer. Ständig unterwegs, ständig in Verhandlungen für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen. Aber es hat sich gelohnt. Hobbys? Du meine Güte, dafür war nun wirklich keine Zeit mehr.

Dennoch fiel er nicht in dieses Ruhestandsloch. Da war die ehrenamtliche Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter bei der AOK, wofür er das Bundesverdienstkreuz erhielt. Da waren die Hunde, fünf Cairn Terrier nacheinander. Der Garten vor dem Haus, die Rosen in allen Farbschattierungen, die er beschnitt und goss und zusammenband. Da waren die sommerlichen Fahrradtouren mit Ursula nach Kleinmachnow und Teltow. Die Bücher, die er las, historische Werke und Liebesromane. Da war der Computer, den er sich, betagt schon, zulegte. Seine Tochter wollte sich für einen neuen Job bewerben, hatte aber nur eine Schreibmaschine. „Ich kauf dir einen Computer“, bot er an, aber sie sagte „Nein.“ – „Dann kauf ich ihn für mich!“ Um zu lernen, wie man ihn bedient, besuchte er einen Volkshochschulkurs. Dann war da die Musik, besonders gern Tschaikowski, Vorspiele an der Universität der Künste, Konzerte in der Philharmonie, wo sein Platz weit vorn im Parkett war.

Ein gelungenes Leben, dachte er, lehnte an der Reling des Postschiffes, das an der Westküste Norwegens hinauf gen Norden fuhr.

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