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Heidi Kull

© privat

Nachruf auf Heidi Kull: „Jemand musste das Beste tun. Das war ich“

Sie arbeitete in der „Zeichnerei Kull“, sie ging aus, fuhr mit ihrer Vespa durch die Stadt. Und sie erfand, als die Auftragslage mies war, das "Nüscht".

Ein Gongschlag, 20 Uhr. Hinein in seinen verhallenden Ton mischt sich eine sachliche Männerstimme: „Hier ist das deutsche Fernsehen mit der ,Tagesschau‘.“ Die Schlusssequenz der „Hammond-Fantasie“, das „Taa-ta, ta-ta-ta-taaa“ ertönt, der Sprecher erscheint und sagt mit fest nach vorn gerichtetem Blick: „Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Vorm Fernseher in der blitzblank geputzten Schwarzwaldstube sitzen drei ältere Damen und ein Mädchen mit geradem Rücken, erwidern den Gruß mit einem leichten Nicken und zweifeln nicht einen Moment: Der Mann hinter der Glasscheibe sieht sie genau.

Heidi, das Mädchen, lebte bei der Großmutter und zwei Tanten in einem Haus im Kinzigtal. Sie arbeiteten den Tag über auf dem Hof, sangen, lasen, zeichneten am Abend. Nach der Grundschule ging Heidi fort, nach Offenburg, mit einem Begabtenstipendium für ein katholisches Gymnasium mit Internat, wo sich ihr zeichnerisches und musikalisches Talent immer deutlicher zeigte. Wo sie die Schülerzeitung leitete, Klassenfahrten und Partys organisierte. Wo sie verstand, dass sie noch weiter hinausmusste.

Mit 18 der Umzug nach Berlin. Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule der Künste. Zeichnen, immer und überall. Viele Freunde, das rauschhafte nächtliche Leben. Die Einsicht: Ich liebe Frauen. Ihre Mitarbeit im „Pelze Multimedia“, einem ehemaligen Pelzgeschäft, in dem Künstlerinnen, Musikerinnen, Filmemacherinnen zusammenkamen. Ihre Skizzen der großstädtischen Lesbenszene für das feministische Magazin „Primadonna“. Die Frauenzeitung „Blau“.

Das Beste: die Katze töten

Und dann, noch einmal, mit aller Wucht, der Schwarzwald. Mit 16 hatte Heidi das Haus geerbt, hatte vor ihrem Berlinumzug eine Weile allein darin gelebt und sich gefürchtet. Jetzt, 1991, der endgültige Entschluss, das Haus zu verkaufen. Es war, als lasse sie damit die Kindheit, die Jugend zurück, für immer. Sie drehte einen Film: „Nacht zum 29. 4.“. Gezeichnete Bildfolgen. Das Ticken eines Weckers, die schwarze Silhouette einer Figur, dann Heidis Stimme: „Ich war zurückgekommen in das Haus. Es war mein Haus. Ich sah mich um. Ging durch die Räume. Von einem Fenster aus sah ich eine große alte Katze. Ich kannte die Katze …“ Leute tauchen auf, begutachten das Haus. Die Ich-Erzählerin denkt an die Katze. „Jemand musste das Beste tun. Das war ich.“ Das Beste: die Katze töten. „Niemand konnte es mir abnehmen. Ich allein musste es tun.“ Das Getöse der Leute, die das Haus kaufen wollen. Die Entscheidung der Ich-Erzählerin, die Katze zu ertränken, sie ins Wasser, „woher sie gekommen war“, zu legen. „Es würde sanft sein. Ich hätte sie zurückgebracht.“ Erneut das Ticken des Weckers.

Heidi war so jung, und schuf diese erstaunlichen Filme. In „Geliebte Mörderin“ verfallen zwei Frauen, die für Geld töten, einander und die eine lässt sich aus Liebe von der anderen ermorden. Heidi erhielt dafür einen Preis beim „Frameline Film Festival“ in San Francisco.

Und natürlich: „Ich und Frau Berger“. Ein von ihr geschriebenes, gesungenes und auf der Ukulele begleitetes Lied, das sie später verfilmte, für „Läsbisch TV“, die erste Fernsehsendung über lesbisches Leben, für die sie Anfang der 90er arbeitete. Im Lied geht es um eine junge Frau und eine ältere, Frau Berger, Nachbarinnen in einem Mietshaus. Die Frauen lieben einander, die Junge besucht die Ältere in ihrer Wohnung. „Uhh, sagt Frau Berger zu mir. / Uhh, es ist stärker als wir.“ Und dann, in der dritten Strophe: Es gibt auch einen Herrn Berger, der aber nur samstags und sonntags zu Hause ist.

1992 ein Einschnitt, der Christopher Street Day. Heidi fuhr auf dem Wagen von „Läsbisch TV“ mit, der Wagen rollte langsam, sie wollte ein wenig nebenherlaufen, sprang herab und blieb mit dem linken Mittelfinger hängen. Die Ärzte konnten ihn nicht retten. Wie sollte sie nun die Saiten der Ukulele greifen? Sie probierte und experimentierte, erzeugte mit vier Fingern neue Klänge, auch auf der Gitarre, und brachte sich später noch das Zitherspiel bei.

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Immer mehr Aufträge: Titelbilder für Romane. Sachbücher. Programmhefte. Werbung. Lehrfilme über Schiller, Kafka, Heine. RTL zeigte die Geschichte eines Mannes, der, als er sehr jung war, eine Frau liebte und diese Frau nun, mit 69, wiederfinden möchte. Heidi porträtierte die Gesuchte anhand der Erinnerungen des Mannes und verwandelte das junge Gesicht in das einer betagten Dame. RTL fand die Frau im Süden Deutschlands, alle blickten gebannt von ihr auf Heidis Zeichnung, die fast wie ein aktuelles Passbild wirkte.

2001 eröffnete sie ihr Atelier, die „Zeichnerei Kull“ am Oranienplatz. Sie ging aus, fuhr mit ihrer Vespa durch die Stadt, gründete einen A-cappella-Chor.

Und erfand, als die Auftragslage mal mies war, das „Nüscht“. Während des Aquarellierens geriet ein schwarzer Klecks auf das Papier, sie malte ihm Augen, einen Mund, Arme und Beine. Baute dann ein dreidimensionales „Nüscht“, platzierte und fotografierte es überall in der Stadt. Es bekam eine eigene Facebookseite, die Leute warteten jede Woche auf „Neues vom Nüscht“.

Im Oktober entdeckte man ihren Herzklappenfehler. Wegen einer Zahnentzündung wurde die Operation verschoben, ein neuer Termin musste gefunden werden. Am 10. Februar ein Abendessen mit Freunden, ein Glas in einer Kneipe. Sie fuhr nach Hause, legte sich ins Bett, schlief ein und wachte nicht mehr auf. Eine Woche darauf kam der neue Termin für die Operation.

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