zum Hauptinhalt
Iepe Rubingh

© privat

Nachruf auf Iepe Rubingh: Schlauer, schneller, härter!

Was wollte er wohl lieber sein, ein Narr, ein König? Beides! Drum wurde er Schachboxer. Und Weltmeister. Der Nachruf auf ein schnelles Leben

Von David Ensikat

Keine eigene Familie. Keine Witwe, die um ihn weint. Keine Kinder, die sich um sein Erbe streiten. Kein langer Abschied, keine Krankheit, die sein Lebensende angekündigt hätte.

Aber eine Trauerfeier, und was für eine. Sein Bruder hat ihm einen Sarg gebaut mit einer Narrenkappe vorn und einer Schachfigur oben drauf. Ein König selbstverständlich. Neben dem Sarg halten der Bruder, die Mutter und fünf Freunde Reden, die so gut kein Trauerredner halten könnte. Außerdem spricht eine Freundin, die offenlässt, wie nah sie ihm mal war, die aber stellvertretend für die vielen Frauen spricht, die ihm ausgesprochen nah waren, etliche für eine oder ein paar Nächte, einige für Wochen, wenige für Monate. Manch eine könnte die These, dieser Mann sei im Grunde „Feminist“ gewesen, für nicht besonders feministisch halten; originell und gut geeignet für die Abschiedsrede ist sie allemal.

Es ist der 22. Mai 2020, wegen des Coronavirus darf nur ein kleiner Teil seines großen Freundeskreises in der Kapelle und auf dem Friedhof sein. Deshalb wird die Feier per Youtube übertragen. Dort bleibt sie auf ähnliche Weise erhalten wie die Kunst, die Iepe Rubingh angezettelt hat, als er noch Künstler war.

Dann diese Infektionsschutzmasken vor den Gesichtern. Trauernde, denen man die Trauer kaum ansieht. Läge er nicht mausetot in seinem Sarg, könnte man das Ganze für eine Performance halten. Als hätte der Kerl sich gedacht: Als Geschäftsmann läuft es nicht so flockig, versuche ich’s als Künstler noch einmal. Würde ganz gut zu ihm passen: er im Mittelpunkt, Narr und König, unklar, ob das alles Spaß ist oder irgendetwas anderes.

"Du wolltest immer schlauer, härter sein..."

Die erste Rede hält sein älterer und größerer Bruder: „Du wolltest immer besser, schlauer, schneller, härter, größer, älter sein als ich. Tut mir leid, alles davon war nicht drin …“ Dann erzählt er, wie der Vater ihnen Boxhandschuhe schenkte, ein einziges Paar für beide. Ihre Regel war dann simpel: Jeder einen Handschuh, wer zuerst aus der Nase blutet, hat verloren.

Der Bruder hält seine Rede auf Englisch, denn seine und Iepes Muttersprache versteht in Berlin kaum jemand (hier tut man sich schon mit dem Namen schwer, Iepe, dabei spricht man ihn, wie man ihn schreibt). Sie sind in Rotterdam aufgewachsen, in einem Arbeiterviertel, der Vater Tischler, die Mutter Bibliothekarin. Gute Leute offensichtlich, denn sie schenkten ihren Söhnen viel Liebe und viel Freiheit. Der Vater starb früh. Die Mutter tritt neben Iepes Sarg ans Mikrofon: „Du hast mich sehr geliebt. Aber ich dich noch viel mehr.“ Sie erzählt, wie sie und der Vater beim Umzug zum Studium in Amsterdam helfen wollten, wie sie früh bei ihm klingelten und er verschlafen aufmachte und noch nichts gepackt war. Er hatte so ein Urvertrauen: Die Dinge ruckeln sich zurecht; kein Grund, sich verrückt zu machen.

Zehn Tage Knast

Eine Geschichte, an der die Mutter beteiligt war, die sie hier aber nicht erzählt: die von Iepes Performance in Tokio. Er hatte das schon mal in Berlin gemacht, eine Kreuzung mit ein paar Helfern und vielen Hundert Metern Absperrband binnen Sekunden lahmgelegt, einfach mal so, als Happening. Das war am Hackeschen Markt ganz hübsch – warum sollte man es nicht an einem etwas größeren Ort noch mal machen? Die „Shibuya-Kreuzung“ in Tokio kennt man auf der ganzen Welt, das ist die mit den diagonalen Zebrastreifen. Dort hat Iepe die Absperrnummer wiederholt, diesmal als gelber Narr verkleidet. Er kam für zehn Tage in den Knast – und in die Zeitung, die Sache hat sich echt gelohnt. Das rot-weiße Absperrband hatte ihm seine Mutter im Koffer nach Tokio gebracht.

Ein Freund erzählt in seiner Trauerrede, wie er Iepe in Amsterdam kennengelernt hat. Eine Party zum Studienstart, eine Band spielte, da sprang Iepe auf die Bühne, grinste breit ins Publikum und ließ die Hose fallen. Hallo Amsterdam!

Geschmacklos? Selbstsüchtig? Betrachten wir’s vom Ende her: Auf der Trauerfeier amüsieren sie sich hinter ihren Masken.

Bevor Iepe nach Berlin zog, 1997, ganz allein, befestigte er überall in Amsterdam Poster mit der Aufschrift: „Dag Amsterdam, Iepe“ („Tschüss Amsterdam, Iepe“). Die Stadt sollte sich gefälligst an ihn erinnern, auch wenn er noch nicht allzu viel zustande gebracht hatte.

Auf der Iepe-Feier nennen sie ihn oft artist, Künstler. So hat er sich auch selbst bezeichnet. Ein erfolgreicher Künstler hinterlässt ein Werk, ein verzweifelter mag es verbrennen. Schwer vorstellbar, dass Iepe je verzweifelt war; aber falls er es mal war – was hätte er verbrennen sollen? Um sich in Berlin bekannt zu machen, fotografierte er sich selbst sowie ein paar Frauen mit Masken. Die Fotos hängte er in seiner winzigen Wohnung auf und lud zu einer tagelangen Party: Kommt her, seht her! Die meisten Bilder wurden geklaut – voilà, das ist es, wovon die Leute später sprachen. Die Fotos selbst waren nicht so wichtig. Die Sache mit den Absperrbändern: Übrig blieben ein paar Zeitungsartikel und Videoaufnahmen. Ganz ähnlich bei der Farbaktion auf dem Rosenthaler Platz. Vor zehn Jahren hat er da ein Dutzend 50-Liter-Eimer auskippen lassen, Blau, Rot, Gelb und Lila. Die Autos fuhren die Farbe breit, es entstand ein Riesenmuster. Der Regen wusch das Kunstwerk fort, rückstandsfrei.

Kein Widerspruch - ein Sport!

Neben der Erinnerung der Tokioter und Berliner an die Aktionen blieb aber doch ein wesentlicher Rückstand. Das waren ja nicht die Werke eines Einzelnen. Iepe brauchte jede Menge Helfer, und die Helfer, die Absperrbandspanner und die Farbauskipper, erinnern sich mit Stolz und Freude an die Dinger, die sie da gedreht haben, sie erzählen davon, sie erinnern sich an Iepe, der sie zusammengebracht und allesamt zu Künstlern gemacht hat. Wenn das keine Hinterlassenschaft ist!

Und dann fällt in den Reden immer wieder dieses Wort, das Ignoranten für ein Oxymoron halten könnten, einen Widerspruch in sich, so wie schwarzer Schimmel oder introvertierter Iepe. Das Wort: Schachboxen. Kein Widerspruch – ein Sport, der tatsächlich existiert, dank Iepe Rubingh.

Er war seit sechs Jahren in Berlin, als ihn ein alter Freund besuchte und sie feststellten, dass sie beide sowohl Schach spielten als auch boxten. Zwei schlaue, starke Jungs, die selbstverständlich rausbekommen mussten, wer schlauer und wer stärker war. Warum nicht in einem einzigen Kampf?

Und warum nicht unter Zeugen? Um Weltmeister zu werden, braucht man welche. Denn merke: Wer etwas so gut kann wie niemand sonst, ist Weltmeister; in einer Disziplin, die bislang niemand ausgeübt hat, ist das nicht allzu schwer. Iepe und sein Freund richteten ihren Titelkampf in einer großen Arena aus mit Zuschauern, die auch noch Eintritt zahlten. Sie spielten eine Schachpartie, fünfmal unterbrochen von dreiminütigen Boxrunden; das Publikum johlte bei schlimmen Hieben wie bei schlauen Zügen. Iepe war im Schach zwar deutlich unterlegen, aber es gelang ihm in einem etwas fragwürdigen Augenblick, einen Haken derart zu platzieren, dass sein Gegner alle Konzentration verlor. Die Welt bekam ihren ersten Schachboxmeister, das war amtlich und konnte nicht mal mehr von seinem großen Bruder infrage gestellt werden: Iepe war der schlaustärkste Kerl auf dem Planeten, the smartest toughest guy on earth.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
weitere Texte des Autors, David Ensikat, lesen Sie hier]

Sollte der nicht auch reich werden? Keine von Iepes Aktionen fand so viel Resonanz wie diese. Leute interessierten sich nicht nur für den Doppelsport, Leute wollten mitmachen, immer mehr, überall auf der Welt. In England, in Russland, in Indien entstanden Vereine, es fanden sich Schachboxer, gegen die der erste Weltmeister keine Chance mehr hatte. Folgerichtig kümmerte er sich nicht um einen zweiten Titel, sondern um die Vermarktung. Fernsehrechte! Eintrittsgelder! Internet! Auftritte als Schachboxguru! Er flog um die Welt, traf sich mit den Klitschkos und mit Kasparow, legte Wert auf gute Klamotten. Doch so schön seine Idee war, so gut gelaunt und überzeugend er auch auftrat – das große Geld war mit der Sache nicht zu machen. Iepe wohnte weiter in seiner Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg mit der Badewanne im Wohnzimmer.

Er bemerkte hin und wieder, dass es nicht schlecht wäre, endlich die Richtige fürs Leben zu finden, Kinder zu kriegen und all das. Na ja, die Frauen, mit denen er sich einließ, wurden immer jünger. Nicht dass er selbst alt wurde, Iepe doch nicht. Er lief lange Strecken, veröffentlichte sie auf Facebook, er bezirzte alle Welt mit seinem Charme, erfüllte Geschäftspartner mit Hoffnung, fand immer neue Freunde.

Viel mehr, als an dem Sarg mit der Narrenkappe und dem König trauern dürfen. Bei Facebook teilen sie ihre Erinnerungen, bei Telegram gibt es eine „Love Iepe“-Gruppe. Es finden sich Aufkleber und Poster an Hauswänden in Berlin: „Dag Wereld, Iepe“ – „Tschüss Welt, Iepe“. Die hat nicht er, die haben seine Freunde angebracht, nach seinem Tod.

Woran er gestorben ist? Das Herz vielleicht oder etwas mit der Lunge, man weiß es nicht genau. Am 8. Mai lag er in seinem Bett und war tot, plötzlich, unverständlich, ohne Pointe. Keine Kunstaktion, keine Provokation. Das schnelle Ende eines schnellen Lebens.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false