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Irmgard Schnur (1929-1919)

© privat

Nachruf auf Irmgard Schnur (Geb. 1929): "Beschädigen Sie bitte nichts!"

Mit 40 wurde sie Krankenschwester. Manche würden sagen: Wegen eines Unglücks. Doch eigentlich war es ein Glück.

Berlin-Grünau, ein Wohnzimmer. Darin unter einer Decke drei kleine Personen. Sie versuchen, mucksmäuschenstill zu sein.

Die Aufgabe der anderen Personen in dem Zimmer: so tun, als läge dort keine Decke, als dringe unter dieser Decke kein Kichern hervor. „Sucht uns“, haben die drei kleinen Personen, zwei Urenkel und Irmgard, die dazugehörige Uroma, gerufen, und die anderen spielen das Spiel mit. „Wo sind sie nur, wo haben sie sich versteckt? Wir können sie nicht finden“, sagen sie und laufen im Zimmer auf und ab, als existierte die Decke nicht. Bis die drei es nicht mehr aushalten und prustend zum Vorschein kommen. „Ach, Mama“, seufzt Irmgards Tochter, leicht besorgt um die bald 90-jährige Dame. Die vom Boden aufspringt und den allergrößten Spaß hat.

Stillstand? Alter? „Papperlapapp. Ich bin nicht krank“, sagt sie. „Ich bin immer gut gelaunt.“ Ein Rollator ist ihr ein Graus. Über die Nachbarinnen, die sich nur noch mühsam vorwärts bewegen können, macht sie sich gern ein bisschen lustig.

Ihr Enkelsohn erzählt, wie er und sein Bruder und Irmchen sich den Abhang zur Bahn hinunterkullern ließen, dann eine Münze auf das Gleis legten, um zu sehen, wie die Räder des vorbeirauschenden Zuges sie zu einem Oval walzten. Sie genossen es, ohne Mutter und Vater, allein mit ihrer Oma zu sein: „Dann waren wir Kinder unter uns, ohne Erwachsene.“

Doch ist das Leben keine Ansammlung launiger Anekdoten. Irmgard wusste das sehr gut. Und stemmte sich mit ihrem kleinen Körper und aller Kraft gegen die Zumutungen, die Zerrissenheit.

Nur weg, zurück nach Berlin!

Sie wurde in Burg bei Magdeburg geboren, blieb sechs Jahre dort, bis ihr Vater, ein Buchdrucker, nach Berlin versetzt wurde. Das war schon etwas anderes, Berlin war laut und rau und glitzernd. Dann fielen die Bomben auf die Stadt, der väterliche Betrieb wurde zerstört, die Familie ging zurück nach Burg. Da saß sie also, mit ihren 16 Jahren, mitten in der Provinz, und wollte nur weg, zurück nach Berlin.

Zuvor jedoch begegnete sie Hans-Joachim, einem Neulehrer. Irmgard probte in einer Laientheatergruppe. Wenn sie schon nicht in die Welt hinaus konnte, dann wollte sie diese zumindest ein wenig auf der Bühne nachbilden. Hans-Joachim schauspielerte mit. Während einer Weihnachtsfeier, auf der er in aller gespielten Strenge den Weihnachtsmann gab, versohlte er ihr spaßeshalber den Hintern. Was sie gehörig aufbrachte. „So ein eingebildeter Pinsel!“, schimpfte sie. Und verliebte sich.

Mit 19 wurde sie schwanger und musste ihre Kindergärtnerinnen-Ausbildung abbrechen. Hans-Joachim hingegen machte schnell Karriere, vom Lehrer zum Direktor zum Schulrat. Dann wurde er nach Berlin beordert.

Berlin, endlich. Drei Kinder waren inzwischen da, und dann kam ein viertes, Thomas.

Irgendetwas stimmte nicht. Die Ärzte wussten nicht viel zu sagen, außer: Der Junge wird niemals laufen und sprechen. Älter als sieben kann er kaum werden.

Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein, das würde nicht sein. Irmgards Kraft, ihr ganzer Pragmatismus, die Hinwendung zu ihrem Kind belehrten die Ärzte eines Besseren. Thomas lernte laufen, er lernte sprechen.

Ganz unpragmatisch ging es auch in der DDR nicht zu

Er benötigte dennoch ständige Betreuung. Irmgard sprach in der Psychiatrischen Klinik in Herzberge, in Berlin-Lichtenberg, vor. „Wenn Sie einen Platz für Ihren Sohn hier in der Tagesstätte wollen“, erklärte man ihr, „müssen Sie selbst Pflegekraft werden.“ Ganz unpragmatisch ging es auch in der DDR nicht zu. Vorgesehen jedoch war nur eine Stelle als unqualifizierte Hilfskraft. Irmgard aber insistierte: „Ich mache das, aber ich möchte eine richtige Qualifikation erwerben!“

Und begann mit 40 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Wurde erst Fachschwester für Neuropsychiatrie, leitete dann die Abteilung für Diagnostik. Zuvor holte sie noch den Abschluss der zehnten Klasse nach, Physik, Mathematik. „Es gibt keine negativen Zahlen“, entschied sie nachdrücklich gegenüber ihren Kindern, die ihr halfen, den Schulstoff zu bewältigen. „Ist ein Apfel aufgegessen, ist er weg, Punkt!“

Unglück? An so etwas mögen andere gedacht haben. Sie nie, niemals. Denn Thomas bedeutete ein doppeltes Glück: Er war da. Und durch ihn gelangte sie zur Freiheit ihres eigenen Berufs.

Und dann gab es noch das Haus bei Müncheberg in Brandenburg. Jedes Wochenende ging es raus mit dem Lada, es wurde gebaut, die erwachsenen Kinder kamen und die Enkelkinder. Eine Zeit lang brachen immer wieder Diebe in das Haus ein. Hans-Joachim vergitterte die Fenster, baute eine Panzertür ein, nichts half. Bis Irmgard sich der Sache annahm. Sie schrieb ein Schild: „Liebe Einbrecher, die Tür ist offen. Beschädigen Sie bitte nichts. Der Fernseher ist alt und wertlos.“ Problem gelöst.

Gegen andere Probleme, existenziellere, gegen das Unglück, das dann kam, konnte auch sie nichts tun. Hans-Joachim starb und dann Thomas, mit 37. Dann brannte das Haus ab.

Sie machte weiter. Noch einmal ein Neubeginn, noch einmal ein Umzug. Mit ihrer Schwester verreiste sie. Auf dem Dampfer unter der Loreley sangen sie das Heine-Lied und ließen sich dabei von einer japanischen Reisegruppe fotografieren.

Ihr Kalender war voll: Gymnastik, Kino, Konzerte. Sie bereitete ihren 90. Geburtstag vor. Dann ein Unwohlsein, eine Untersuchung im Krankenhaus. Etwas Ernstes schien es nicht zu sein. Fünf Tage darauf starb sie.

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