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Jochen Wichmann

© privat

Nachruf auf Jochen Wichmann: Einfangende Filme

Er war Kameramann, das Dokumentarische reizte ihn. In Peking war er dabei, als die Studenten auf die Straßen gingen.

Am 10. November 1989 klingelt bei Jochen Wichmann in Peking das Telefon. Sein Bruder ist am Apparat. Er sagt einen Satz, er wiederholt ihn, er sagt den Satz ein drittes Mal. Erst dann antwortet Jochen – erbost, was eigentlich nicht seinem Wesen entspricht: „Du weißt, dass man darüber keine Scherze macht.“ Sein Bruder bleibt dabei: „Die Mauer ist auf.“ Jochen beginnt zu weinen.

Jochen Wichmann war Kameramann. Mit Diktaturen hatte er sein Leben lang zu tun. In den NS-Staat wurde er hineingeboren. Sein Vater war als Soldat ums Leben gekommen. Seine Mutter wollte mit den vier Kindern die DDR verlassen. Seit 1952 hatte das Land die innerdeutsche Grenze abgeriegelt, einziges Schlupfloch blieb Berlin, wo jedoch Kontrollen erfolgten. Allein die Abreise der fünf aus Schwerin konnte Argwohn erregen. Also teilten sie sich auf: Zuerst reiste die Mutter ab. Ihr folgten über eine andere Bahnstrecke die beiden größeren Kinder. Danach machten sich Jochen und sein älterer Bruder auf den Weg. Es klappte, alle kamen gut in West-Berlin an.

Sie sahen einander an, Jochen und Genoveva

Die Mutter übernahm jede Arbeit, die sie finden konnte, um ihre Kinder durchzubringen. Und Jochen rannte, sobald ein paar Mark übrig blieben, ins Kino. Er liebte Fritz Lang, Charlie Chaplin, Laurel und Hardy. Er träumte davon, hinter der Kamera zu stehen. Er absolvierte eine fotografische Ausbildung und begann, Kurzfilme zu drehen, die im Kino vor den Hauptfilmen gezeigt wurden. Für einen musste er in ein Dorf nach Niederbayern. Zur Übernachtung kamen die Filmleute im „Hotel zur Post“ unter, wo eine junge Frau namens Genoveva das Essen servierte. Sie sahen einander an, Jochen und Genoveva, das war’s. Sie kam nach Berlin, die beiden heirateten und bekamen zwei Söhne.

Jochen drehte Filme und arbeitete als Filmvorführer in einem kleinen Steglitzer Kino. Was ihn wirklich interessierte, war das Dokumentarische, „einfangende Filme“, wie er es nannte. Er hatte Glück, fand eine Festanstellung beim ZDF und wurde nach Ost-Berlin geschickt. Jeden Morgen überquerte er die Grenze, um im DDR-Studio des Senders zu arbeiten, am Abend kehrte er nach West-Berlin zurück.

1986 unterbreitete ihm der Sender das Angebot: Peking. Zunächst für drei Jahre mit der Option auf Verlängerung. Er lief nach Hause und fragte Genoveva und seinen jüngsten Sohn, was sie von der Sache hielten. Beide waren einverstanden, und so packten sie 1987 die Koffer.

Für Ausländer gab es „Villages“ in Peking, die Wichmanns zogen in eines, das vor allem von Deutschen bewohnt wurde. Die Wohnungen waren verwanzt, jedem Journalisten war ein Aufpasser zugeteilt, der Obacht gab, dass nichts Falsches nach draußen drang.

Jochens Zuständigkeitsbereich erstreckte sich auch auf andere asiatische Staaten. Er war einer der ersten Kameraleute aus dem Westen, die nach Nordkorea reisen durften. Der Zug, in dem er fuhr, blieb mitten auf der Strecke stehen, selbstständiges Aussteigen war verboten. Was Jochen lachhaft vorkam. Er öffnete die Zugtür und spazierte in einem unbeobachteten Moment los, auf ein Dorf zu. Da regte sich nichts, kein Mensch, nirgends. Als ihm aufging, dass er in ein potemkinsches Dorf geraten war, in eine Staffage für den westlichen Besuch, wurde er eingefangen und unter rigorosen Mahnungen zum Zug zurückgebracht.

Am 15. April 1989 änderte sich dann alles. Schon 1986 und 1987 waren in chinesischen Universitätsstädten Tausende Studenten für mehr Demokratie auf die Straße gegangen, was zu Demonstrationsverboten, Verhaftungen und Nachrichtensperren geführt hatte. Nach dem Tod des Reformers Hu Yaobang am 15. April ’89 bekundeten die Studenten ihre Trauer öffentlich.

Die Korrespondentin Gisela Mahlmann und Jochen schnappten sich Mikrofon und Kamera – und zogen los. Liefen mit den Demonstrierenden, befragten sie, filmten. Diesmal hinderte sie niemand. Die Machthaber waren überfordert mit der Situation. Die Aktionen der Studenten auf und rund um den Tian’anmen-Platz wurden waghalsiger. Sie zerschlugen Glühbirnen und kleine Flaschen. Warum? Der Parteiführer hieß Deng Xiaoping. „Deng“ kann, in der entsprechenden Tonlage ausgesprochen, „Strom“ oder „Licht“ bedeuten; „Xiao“ heißt „klein“; und „Ping“, ebenfalls entsprechend betont, „Flasche“.

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Stunden von Filmmaterial entstanden, Tag für Tag. Vom 3. auf den 4. Juni allerdings gibt es keine Bilder von Jochen. Am Abend des 3. Juni rollten Panzer auf die Innenstadt zu. Überall tauchten Kampftrupps auf. Die Protestbewegung wurde ausgelöscht. Jochen aber war kein Kriegsberichterstatter. Die Wichmanns ließen alles stehen und liegen, flohen aus Peking. Im September kehrten sie zurück.

Am 10. November desselben Jahres kam der Anruf von Jochens Bruder. Hier, in China, hatte das diktatorische Regime seine Macht gerettet und gefestigt, dort, im fernen Berlin, war es untergegangen.

1992 zogen Jochen und Genoveva endgültig zurück, in ein Haus in Gatow.

Jochen arbeitete, Genoveva wurde krank. 2011 starb sie. Wie soll man weiterleben, allein, ohne die eine, geliebte Person? Es war schwer. Jochen beschäftigte sich mit Kunst und mit Geschichte, war Mitglied im Verein „Freunde Taiwans“. Er wurde lungenkrank, hatte Gallenblasenprobleme und starb am 11. September.

Den Film „Der Protest, die Hoffnung und das Massaker“, dessen Bilder von Jochen Wichmann stammen, kann man sich in der Mediathek des ZDF anschauen.

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