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Jürgen Litfin (1940-2018)

© privat

Nachruf auf Jürgen Litfin (Geb. 1940): Alles für Günter

Seinen Bruder haben sie erschossen. Er schaffte es über die Grenze, viel später. Bei seinem Kampf gegen das Vergessen vergaß er zuweilen die eigene Familie.

Dünner und kleiner war er in den letzten Jahren geworden, das Haar weiß. Selbst seinen geliebten Schnauzer, mit dem er so viele Frauen beeindruckt hatte, den hatte er abrasiert. Etwas von seiner Stattlichkeit war aber noch zu erahnen, weil er seinen Rücken so gerade hielt und weil er lospolterte wie früher. Und dann waren da die Funken seines einst berühmten Charmes, mit dem er die Leute auf seine Seite zog, der ihn selbst vor laufender Kamera mit der Moderatorin flirten ließ. Auch die Wut war nach wie vor da. Sie ließ ihn weiter dafür kämpfen, dass sein ermordeter Bruder seinen gerechten Platz in der Geschichte erhält. Doch was ist schon gerecht? Und was bedeutet das alles, wenn die Wut einen Mann alles andere vergessen lässt, was einmal wichtig war, seine Familie, seine Freunde?

„Mein Name ist Jürgen Litfin. Ich bin der Bruder von Günter Litfin, der Ersterschossene von der Berliner Mauer“, so stellte er sich vor. Jürgen war der zweite von drei Brüdern. Der strenge Vater war Fleischermeister und Katholik, die sorgende Mutter Hausfrau und Protestantin. Der kleine Bruder war fremd geblieben, schnell nach Hamburg und in den Westen gegangen. Den großen aber, den Günter, mit dem er so viel Zeit verbrachte, mit dem er auf Rädern durchs Umland fuhr, sich wortlos verstand, den liebte und bewunderte er. Feinfühlig, zugewandt und gut gekleidet sei er gewesen, und wenn er dafür auf dem Schulhof verspottet wurde, war es der Jüngere, der sich für den Älteren in die Bresche warf. Günter war Schneider, nach West-Berlin wollte er, weil es hier alle Stoffe und Nadeln gab, die er für sein Handwerk brauchte. Erst pendelte er hin und her, dann besorgte er sich drüben eine Wohnung. Jürgen baute sie aus, die meisten Sachen hatten sie schon rübergebracht. Nur die Vorstellung, seine Mutter allein zu lassen, ließ Günter zögern.

Mit Mauern kannte er sich aus

Jürgen war anders, wilder, lauter, ein Abenteurer. Kein Zauderer, sondern einer, der losrannte, nicht nach links und rechts schaute, auch wenn da eine Mauer im Weg war. Er würde sie schon zum Einsturz bringen. Mit Mauern kannte Jürgen sich aus. Er hatte eine Lehre als Maurer und Putzer gemacht und dann die Klinkerkunst erlernt. 1957 war das. Er ging in den Westen, um besseres Geld zu verdienen und um dem politischen Druck zu entgehen. Er und Günter und der Vater, sie waren alle in der West- CDU. Nachts fuhren sie auf ihren Fahrrädern durch Ost-Berlin und verteilten die verbotenen Mitgliedszeitungen. Doch gerade als er sich im Westen eingelebt hatte, wurde der Vater krank.

Jürgen wollte die Familie nicht allein lassen und ging zurück. Sie hielten doch zusammen. Die Söhne unterstützen die Mutter, als der Vater nicht mehr arbeiten konnte und schließlich starb. Die Mutter kümmerte sich später jeden Tag nach dem Kindergarten um die Tochter von Jürgen. Schweißer, Schmelzer und Former lernte Jürgen dann auch noch. Alles, was er mit seinen Händen tun konnte, tat er gern und gut. Sich und seiner kleinen Familie ein Haus zu bauen, war dann eine Kleinigkeit.

Brigitte hieß seine Frau. Im „Café Nord“ tanzten sie zusammen, am liebsten zu der wilden Musik, die aus dem Westen kam. Hier küssten und verliebten sie sich. Als die Tochter unterwegs war, heirateten sie. Brigitte war die strenge und sparsame, er der wilde und aufregende Vater, der mit der Tochter die Welt auf dem Fahrrad oder im Auto erkundete. Der sie überallhin mitnahm, sogar zu seinen vielen Liebschaften.

Viel später, als es die DDR nicht mehr gab, sanierte Jürgen auch noch diesen ehemaligen Grenzwachturm in Mitte und machte ihn zu einer Gedenkstätte für seinen Bruder und zu einer kleinen Ausstellung übers Grenzregime.

Jürgen Litfin (1940-2018)
Jürgen Litfin (1940-2018)

© privat

Doch was war eigentlich geschehen? Es war die Nacht zum 13. August 1961, die Nacht vorm Mauerbau. Günter und Jürgen feierten in Reinickendorf. Es wurde spät, sie überlegten, ob sie bleiben sollten. Doch plötzlich hatte Günter das dringende Gefühl, doch noch nach Hause zu müssen, um die Mutter nicht alleine zu lassen. Er drängelte, die anderen gaben nach, sie rannten los und bekamen noch die letzte S-Bahn über die Zonengrenze. Wie oft hat Jürgen sich später gefragt, was gewesen wäre, wenn sie nicht nachgegeben und losgefahren wären. Dann wären sie im Westen gewesen, als am nächsten Morgen die Übergänge verriegelt wurden und Soldaten den Bau der Mauer überwachten.

Günter war verzweifelt. Im Westen war seine Arbeit, die Wohnung, seine Zukunft, im Osten die Mutter. Mit jedem Tag, der verging, schlossen die Grenzer die letzten Schlupflöcher. Am 24. August lief Günter die Grenze auf und ab und suchte nach einer Lücke. Am Humboldthafen, nicht weit von der Stelle, wo heute der Hauptbahnhof steht, war keine Mauer, nur das Stück durchs Wasser. Kein Soldat war zu sehen. Günter sprang hinein, doch es waren Grenzer da, gaben erst Schüsse in die Luft ab und zielten dann auf seinen Kopf.

„Diese Penner haben meinen Bruder wie eine Ente durchs Wasser gejagt, und als er wieder hochkam vom Tauchen, ist er mit einem Genickschuss getötet worden“, so erzählt es Jürgen wieder und wieder. Auch wie er selbst dann verhaftet und verhört wurde. Wie ihm die Stasi nicht erlaubte, seinen Bruder noch einmal zu sehen. Wie er in den Kirchenkeller einbrach und den verplombten Sarg aufhebelte. Wie er sich versicherte, dass es wirklich sein Bruder war, der da lag, mit einem Loch im Kinn und einem am Hinterkopf. Wie er dann dastand, vor Günters Leiche, und sich und Günter schwor, seine Mörder ausfindig zu machen.

Wie aber sollte das gelingen, wenn die Mörder in Uniformen steckten und er selber überwacht wurde?

Hausdurchsuchung, Festnahme, Gerichtsverhandlung

Das Leben ging weiter, Häuser wurden gebaut, Autos gekauft, sie führten ein Eisenwarengeschäft, die Tochter wurde größer und dann selber schwanger. Aber das Gefühl, diesen Staat verlassen zu müssen, hatte sich tief in die Familie gegraben. 1981 dann. Hausdurchsuchung, Festnahme, Gerichtsverhandlung. Der Vorwurf: Jürgen hatte Bekannte nach Polen gefahren, die von dort in den Westen fliehen wollten.

Die Zeit im Gefängnis war die schrecklichste seines Lebens. Er sang seiner Frau über den Hof ein Geburtstagslied, und sie sperrten ihn dafür in einen Käfig, der im dunklen Keller stand. Sie gaben ihm Medikamente, die sein Gesicht lähmten. Sie verhörten ihn wieder und wieder, um zu schauen, ob er doch noch auf Linie zu bringen war. Nach ein paar Monaten hatte die DDR genug von der Familie Litfin: Sie alle konnten in den Westen, Familienzusammenführung und Gefangenenfreikauf.

Seinen Frieden fand Jürgen auch in seiner neuen Heimat nicht, denn sein Kampf hatte gerade erst begonnen. Er rekonstruierte die Ermordung seines Bruders, dann fand er den Schützen, verklagte ihn und musste miterleben, wie er auf Bewährung entlassen wurde. Immer gab es etwas im Namen seines Bruders zu erkämpfen: die Umbenennung einer Straße, die Restaurierung und Neuverlegung eines Gedenksteins, ein Buch über die Familiengeschichte. Für all das wurde er ausgezeichnet, war als Zeitzeuge gefragt und anerkannt.

Seine Frau hatte irgendwann genug von dieser Rastlosigkeit. Sie trennte sich. Dann hatte auch die Tochter genug von diesem Vater, der nur noch seinen Turm zu kennen schien. Sie brach den Kontakt ab.

Kurz bevor er dement wurde, sagte Jürgen Litfin in einem Fernsehinterview: „Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte. Ich habe den Namen meines Bruders weltweit bekannt gemacht. Ich habe den Turm gerettet und die weißen Kreuze am Spreebogen mit dem Namen meines Bruders. Mehr kann man gar nicht erreichen. Da bin ich stolz drauf.“

In den letzten zwei Jahren kümmerte sich seine Tochter um ihn. Oft saßen sie beieinander und versuchten zu verstehen, was passiert war. Sie versöhnten sich, und dann vergaß er alles, was geschehen war.

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