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Karl-Heinz Tepperwien (1935-2015)

© privat

Nachruf auf Karl-Heinz Tepperwien (Geb. 1935): Was möglich ist

Er war mal Kameramann beim DDR-Fernsehen. Lange her. Viel wichtiger war sowieso sein Haus in der Uckermark. Da trafen sie sich und feierten ihre Feste und lebten so frei, wie es eben möglich war im Sozialismus.

Ein Stück Land. Vier Gehöfte, eine Ruine, der Arm eines Sees, sumpfige Senken, Kühe, Feldwege, Felder, an deren Rändern hin und wieder ein Wäldchen liegt.

Ein Stück Land, wie es jeder sehen kann, der sich von Berlin aus auf den Weg macht, die B 109 hinauf nach Norden, in die Uckermark. Doch wie dürftig wäre die Wirklichkeit, sähe jeder nur ein Stück Land. Wie belanglos, verglichen mit einer einzigen Erinnerung.

Etwa dieser hier: Über die Feldwege fährt ein roter Škoda mit einem Anhänger, in dem winkend und lachend Kinder stehen, die, bevor sie hineingeklettert sind, ihre Hände in Farbtöpfe getaucht und an die Seiten beider Wagen gedrückt haben. Hinterm Lenkrad des märchenhaften Gespanns sitzt ein Mann und lacht auch, lauter als die Kinder. „Karl“, rufen sie, „fahr schneller“, und er lässt den Sand des Feldweges aufwirbeln. Nie hätten die anderen Erwachsenen der Schmiererei am Auto zugestimmt, nie wären sie so wild über den Feldweg gerast.

Auch wenn sie kein zahmes Leben leben, trinken und dazu Free Jazz hören und nackt im Gras liegen. Karl mit dem bunten, schnellen Auto tut dies alles nicht. Er gilt unter den Kindern als streng, sie sollen an dieses denken, jenes beachten. Einmal proben sie tatsächlich den Aufstand. „Wir gehen Pflaumen pflücken“, ruft Karl, nimmt Eimer und eine Decke und macht sich mit den Kindern auf den Weg zur Ruine, zu den uralten, schwer mit Früchten behangenen Bäumen. Karl schüttelt mit seinen schönen kräftigen Händen an den Stämmen und die Kinder fangen murrend die Pflaumen in der Decke auf. Bis es ihnen reicht.

„Du hast versprochen, uns ein Häuschen zu bauen!“, sagen sie und lassen die Decke fallen. Die Pflaumen rollen ins Gras, erschrocken senken die Kinder ihre Köpfe. Niemand sagt ein Wort, unter einem Fuß knackt ein Ast. Dann spricht Karl. Er lobt sie für ihren Mut, aufzubegehren. Sie laufen zurück, glücklich die Eimer schleppend, und beginnen auf der Stelle, mit Karl zusammen Bretter auszusuchen.

Bretter besitzt er in rauen Mengen, wie tausend andere Dinge, Schrauben, Sägen, eine Schneefräse, mehrere Rasenmäher, Kisten, Kartons, Schachteln, alle voll. Irgendwann fängt er an, aus den Brettern mitten auf der Wiese eine Werkstatt zu bauen. Nein, keinen rechteckigen Allerweltsschuppen, einen Rundbau mit abgeschrägtem Dach.

Die Bretter dafür hat er 45 Jahre zuvor von irgendwo geholt, den beladenen Laster auf den Hof gefahren, die Tür geöffnet, um herauszuspringen, und er ist auch gesprungen, doch nicht auf dem Boden gelandet, sondern in den Armen einer Frau, in Marias Armen.

Maria und Karl. Die Anmutige und der hochgewachsene Hagere, dem schon mit 19 die ersten Haare ausgefallen waren, was er später mit einem beachtlichen Bart ausglich, zu dem er 1983 anmerkte: „Das ist mein Beitrag zum Karl-Marx-Jahr.“

Die DDR findet nicht immer lustig, was er sagt und tut. Die Zusammenrottung dieser Leute dort draußen in der Uckermark ist schon suspekt genug. Musiker, Dichter, Schauspieler treffen sich Wochenende für Wochenende und feiern alle paar Jahre ausufernde Jazzfeste, für die Karl seine Scheune freiräumt.

„Dann gehe ich“

Karl-Heinz Tepperwien (1935-2015)
Karl-Heinz Tepperwien (1935-2015)

© privat

Ein Trompeter musiziert einmal nur für ihn. Karl ist Kameramann beim DDR-Fernsehen, dreht Filme über Elche, Schwäne und Störche. Die Störche landen regelmäßig an einer sumpfigen Senke neben dem Nachbargehöft. Karl baut eine Hütte aus Holz und Schilf, setzt sich hinein und wartet mit seiner Kamera. Aber er kann nicht den ganzen Tag da hocken. Also wird ein Zeichen vereinbart. Die Freunde vom Nachbargehöft behalten die Senke im Blick. Und als die Störche am Himmel erscheinen, läuft der Trompeter auf den Feldweg, bläst „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, Karl wirft sich in seinen Wagen, rast rüber, schleicht sich in die Hütte und filmt.

Für die Elche muss er nach Polen. Zu einem Nachdreh begleitet Maria ihn, nach der Arbeit fahren sie nach Warschau, schlendern durch die Straßen, wo man das Rumoren spüren kann, diese Solidarnosc-Stimmung. Ein junger Pole empfiehlt ihnen, unbedingt ins Kino zu gehen, „Der Mann aus Eisen“ von Andrzej Wajda. Sie tun das, unterhalten sich ein bisschen mit den Leuten, fahren zurück nach Berlin. Ein sommerlicher Ausflug, mehr nicht. In Berlin aber weiß man schon Bescheid. „Sie waren also in Warschau, Herr Tepperwien“, sagt der Mann von der Stasi. „Von jetzt an dürfen Sie entweder die Takes für die ,Aktuelle Kamera‘ einblenden oder gehen.“

„Dann gehe ich.“ Er ist 50.

Eines Nachmittags beobachtet er Maria, die fünf Glöckchen aus Keramik fertigt, Weihnachtsgeschenke für Freunde. Er guckt, er nimmt ein Glöckchen, dreht es hin und her, setzt die kleine weiße Kappe, die er immer trägt, ab, streicht sich über die Stirn und sagt: „Da könnte man was draus machen.“

Alle wissen: Jetzt geht es los. Basteleien so nebenbei sind ausgeschlossen. Karl sieht sofort, was möglich ist und schöpft die Möglichkeiten aus. Er besorgt sich Formen und Gießmasse, lernt bei Keramikern, spannt alle um sich herum ein. Maria tupft zarte Blüten auf die Glöckchen, die Kinder, seine eigenen, Ira und Marc, und die anderen, inzwischen groß geworden, fädeln Bänder durch kleine Kugeln, die Klöppel. Und manchmal murren sie auch, das haben sie nicht verlernt. Dann kocht Maria eine Kanne Kaffee und stellt einen Kuchen auf den schweren Eichentisch, selbst Karl hört auf zu arbeiten, lehnt sich zurück, schließt die Augen und probiert das erste Stück, ganz behutsam.

Als es zu dämmern beginnt, gießt jemand Wein in Gläser, alle lachen und reden und essen, Karl redet nicht, er schneidet konzentriert hauchdünne Scheiben von einer Salami, so dünn, so regelmäßig, dass alle nur von den „Karl-Scheiben“ schwärmen. Die Gespräche werden schärfer, Karl redet noch immer nicht mit, niemand weiß, ob er überhaupt zuhört. Manchmal steht er auf und legt sich auf den breiten Ofen in der Küche, den er selbst gemauert hat, die Stimmen stören ihn nicht, er schläft zehn Minuten tief und fest, auch so eine Karl-Verrücktheit, keiner kann das, nur er. Manchmal aber sagt er doch etwas. Er hat zugehört, die Diskussion steckt fest, da stellt er die Frage, die die Dinge neu ordnet, Verschwatztheit nicht mehr zulässt.

Im entscheidenden Augenblick ist Karl da, ohne viel Aufhebens, ohne jemanden zu bedrängen. Wenn seine Kinder sich in Lebens- oder Liebesdingen verheddern, wenn die Freunde vom Nachbarhof versuchen, einen Schornstein zu mauern, dazu ein Glas nach dem anderen trinken, immer schwankender auf dem Dach stehen. Es ist schon später Nachmittag, eigentlich ist Karl auf dem Weg zurück nach Berlin, aber er hält an, scheucht die Taumelnden hinunter und steigt selbst hinauf.

Am 1. Dezember 1989 kann er nichts mehr tun. Seine Scheune brennt mit allem Drum und Dran, dem Keramikofen, den Formen, den Glöckchen und Schalen und Vasen. Er steht in der Kälte und die Hitze schlägt ihm ins Gesicht. In seinem Kopf bleiben die Bilder von dem, was möglich war – und möglich ist.

Die Scheune wird wieder aufgebaut. Mit der Keramik macht er weiter. Aber wonach die Leute sich zu DDR-Zeiten rissen, bekommt man jetzt an jeder Ecke. Er fährt auf Märkte nach Niedersachsen und Hessen, er experimentiert mit Techniken und Formen, und er hört dann auf. Er ist 60.

Zur Ruhe setzen? Genauso gut könnte man Karl vorschlagen, von jetzt an keinen Kuchen mehr zu essen oder sein Werkzeug wegzuwerfen und nie mehr in die Uckermark zu fahren. Er steht weiter jeden Morgen vor allen anderen auf, er schlägt Bäume im Wald für den Kamin, er baut an seiner Werkstatt, er schleppt Steine, er pflückt im Spätsommer eimerweise Brombeeren, er schichtet an Silvester Holz am Hang hinterm Haus auf für ein riesiges Neujahrsfeuer, er zimmert einen Steg am See, er fliegt nach China und lädt hinterher alle ein, seine Fotos anzuschauen – eine heikle Sache eigentlich, so ein Urlaubs-Dia-Vortrag. Aber die Aufnahmen sind großartig, zeigen seinen Blick, nirgends eine abgedroschene Phrase. Er schafft aus den Bildern eine Welt und schenkt sie den anderen.

Der letzte Oktobertag 2015. Karls Sarg steht vor einer kleinen uckermärkischen Kapelle. Sonnenflecken leuchten auf den sich überlagernden Mustern goldener Ahornblätter. Füße rascheln im Laub. An den Beinen eines Kindes läuft eine winzige Spinne empor, bis hinauf zu seiner bunten Jacke, und beginnt dort, ein Netz zu spinnen, ein ganz feines, fragiles Netz. Eine Windböe fegt durch die Bäume. Fast zerreißt der Faden. Aber die Spinne fährt entschlossen in ihrer Arbeit fort.

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