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Marcus Schloussen (1954-2019)

© privat

Nachruf auf Marcus Schloussen (Geb. 1954): Der Basskran bleibt

In vielen Bands spielte er den Bass. Aber reisen wollte er auch. Doch "Reisekader" zu werden, schien unmöglich. Ein Nachruf auf den Mann dazwischen.

Dort, die Flasche Bier. Jetzt ein, zwei Schluck, denkt der Gitarrist. Die Magdeburger Rockband „Reform“ probt, obwohl sie das sonst nie tut. Doch heute werden der neue Schlagzeuger, der neue Keyboarder und der neue Bassist eingearbeitet. Die Laune ist gut, mit Bier vielleicht noch besser. Aber die Flasche ist unerreichbar. Zwischen ihr und dem Gitarristen sitzt der Schlagzeuger, neben dem der Bassist steht. Also sagt der Gitarrist zum Bassisten: „Mensch, gib mir doch mal das Bier rüber.“ Der Bassist hebt langsam seinen rechten Arm, über den Schlagzeuger hinweg, greift die Flasche, bewegt den Arm langsam wieder zurück und reicht sie dem Gitarristen. Ein Riese im Zwergenland. Der Gitarrist muss lachen: „Kiek dir dit an, der Basskran.“ Das Wort ist geschöpft, Markus hat seinen Spitznamen, der „Basskran“ bleibt.

Für wen kreischen die Mädchen, bis sie in Ohnmacht fallen? Für den Schlagzeuger nicht, er ist viel zu weit hinten. Für das schneidende Riff des Gitarristen oft. Für den gockelnden Sänger vorn am Bühnenrand ohnehin. Aber für den Bassisten? Er ist dazwischen, nicht hinten, nicht vorn. Er sieht das Publikum, das Publikum sieht ihn, und übersieht ihn auch. Doch gilt immer noch das Wort Hanns Eislers: „Hör ich keinen Bass, scheiß ich auf die Melodie!“ Der Bass hält mit dem Schlagzeug alles zusammen.

Marcus Schloussen spielte einen Fretless Bass, einen E-Bass ohne Bünde. „Unter seinen Fingern sang das Instrument, wie kein Sänger singen kann“, sagt Barbara Thalheim, in deren Band er auch spielte. „Er zog die Töne so, dass ein ganz besonderer Klang entstand.“ Obwohl er Autodidakt war, zumindest auf dem E-Bass.

Trommel im Fanfarenzug

Musik umgab ihn schon immer. Seine Eltern, beide aus dem Westen stammend, gingen Ende der 50er Jahre zum Studium an die Musikhochschule „Hanns Eisler“ nach Ost-Berlin; da war Marcus fünf. Die Mutter wurde Opernsängerin, der Vater Mitarbeiter der Konzert- und Gastspieldirektion, beide allerdings in verschiedenen Städten. Marcus blieb zunächst beim Vater in Karl-Marx-Stadt. An der Schule gab es einen Fanfarenzug, in dem er das Trommeln lernte. Zudem schickte ihn sein Vater zum Klavierunterricht. Das Kind bewies ein gutes Rhythmusgefühl und fiel schnell auf. Dann kamen drei Dinge zusammen: Das Kind wurde zum Halbwüchsigen. Der zog zur Mutter nach Berlin. Und der Beat kam auf, erschütterte die Alten und berauschte die Jungen.

Marcus lernte die ersten Griffe auf der Gitarre und spielte im Jugendclub in seiner ersten Band. Er machte eine Ausbildung zum Chemie-Facharbeiter, dann musste er zur Armee, genauer gesagt zur Bereitschaftspolizei in Berlin, was ein mehrfaches Glück war. Denn erstens gab es auf den Stuben Radios, mit denen man, zweitens, die richtigen Sender empfing, die man, drittens, mit Leuten hörte, die was von Musik verstanden, und mit denen man deshalb, viertens, eine Band gründete, die für die Genossen auf jeder Frauen- oder Weihnachts- oder Sonstwasfeier aufspielte, mit einem Repertoire von „Chicago“ bis „Blauer Bock“. All die Sachen aus dem Radio, „Deep Purple“, „Led Zeppelin“, Jazz-Rock, hörten sie nicht nur, sie studierten sie. So lernte Marcus, was Blues ist.

Und dann nahm er einen Bass in die Hand und wusste sofort, was man damit zu tun hat. Und doch sollte die Sache in seriösere Bahnen gelangen. Er nahm Kontrabassstunden, Noten, Bogenhaltung, Fingerhaltung, all das, er schaffte die Aufnahmeprüfung für die Musikschule Friedrichshain, auf die jeder wollte, und wurde danach an die „Hanns Eisler“ delegiert. Währenddessen gründete er die Band „Setzei“, stieg aus, spielte bei „Reform“ Rock und Blues, tourte, übte gleichzeitig Etüden auf dem Kontrabass. Es kamen Konzertanfragen aus Finnland und Dänemark, die von der DDR abgelehnt wurden: „Reisekader“ zu werden, war aussichtslos für Marcus, denn seine Eltern lebten inzwischen wieder im Westen, sein Bruder war gegangen. Da er aber reisen wollte, stellte er einen Ausreiseantrag. Und reiste dann doch nicht aus. Barbara Thalheim wollte ihn als Bassisten. Die Musiker, die Texte, die Arrangements machten aus dieser Band „eine blanke Explosion“, so erzählte er später. Und schließlich, die Ratschlüsse des Systems waren unergründlich, wurde er doch noch Reisekader. „Ich bin gar nicht in den Westen gegangen, war aber oft genug dort.“

Dann fiel die Mauer. Was einerseits ein Glück, andererseits schwierig war, weil plötzlich niemand mehr „die berühmte Lebenshilfe“ der Musik in der DDR brauchte. Er spielte weiter bei Barbara Thalheim und an Theatern.

Bis „Renft“ kam, die alte, legendäre Ostband: systemkritische Texte, Auftrittsverbote, Auflösung, Wiedervereinigung. Auf Marcus’ Anrufbeantworter eines Tages diese Nachricht: „Ja, hier ist Klaus Renft, Du musst mir helfen, Du musst hier mal ’ne Platte mit einspielen. Melde Dich.“

Platten, Tourneen, das ganze Programm. Die Stadt ist voll chaotisch / Die Nacht ist schrill und laut / Die Nacht ist scharf wie’n Haifisch / Und ich bin’s auch. Marcus übernachtete gern in Hotels. Da konnte man so viel machen, zum Beispiel die Möbel verrücken. Oder ’ne Matratze aus dem Fenster schmeißen. Oder die Schuhe über die Hände streifen, sich in seiner ganzen imposanten Größe aufrichten und Schritt für Schritt einen Pfad an die Zimmerdecke drücken. Auf der Bühne aber war er der Ruhepol der Band.

Krankheiten kamen, die Lunge, das Herz. Er sang das Lied „Irgendwo dazwischen“: Nimm Dich vor mir in Acht / Man sagt mir nach, ich sei ein Schluckspecht.

Am 30. November spielte „Renft“ in der „Wabe“ in Prenzlauer Berg. Marcus lag im Krankenhaus. Nach jedem zweiten Song sagte der Sänger: „Es geht ihm schlecht.“ Am 1. Dezember starb er. Wurde in einem Reihengrab beigesetzt. Ich bin irgendwo / Immer irgendwo.

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