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Friedhof II der Dreifaltigkeitsgemeinde an der Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Nachruf auf Marianne-Luise Pötting (Geb. 1931): In Italien lässt man locker

Ein Lehrerhaushalt, ihr Mann Physik, sie Hauswirtschaft, Biologie. Die Furcht der Kinder: dumm sein, unscharf in der Argumentation. Wichtig sind die Ferien.

Diese Kreppsohlen, wie affig. Mariannes Interesse ist jedenfalls geweckt. Wer ist der Typ mit dem Transistorradio, der von Ruderboot zu Ruderboot schäkert, an diesem schönen Tag auf dem Müggelsee?

Es ist Heinz, Lehrer für Naturwissenschaften und Germanistik. Die Ostfront hat er wenige Jahre zuvor überlebt: Durchschuss Wange und Hals, Kriegsgefangenschaft, Scheinerschießung, Blinddarmentzündung, ein Mitgefangener operiert ihn mit dem Taschenmesser, langes Delirium.

Sie heiraten 1955. Marianne, klug und bildschön, ist acht Jahre jünger als Heinz. Der ist sehr stolz auf seine Frau. Dreieinhalb Zimmer am Badener Ring in Tempelhof, Neubau von Frei Otto. Mit der Lambretta über den Brenner, er spürt, wenn sie hinter ihm einzuschlafen droht, dann zwickt er sie.

Marianne, Lehrerin für Biologie und Hauswirtschaftslehre, bekommt vier Kinder. Die Jüngsten sind Zwillinge. Für die Schwiegermutter ist auch noch Platz.

Mindestens sieben sind sie also am Tisch, die Eltern, beide Lehrer, sitzen an den Kopfenden. Die Kinder hören zu, wenn sie vom Schulalltag erzählen. Alle hocken dicht an dicht. Ist mein Redebeitrag es wert, das elterliche Pingpong zu stören? Die größte Furcht der Kinder: dumm zu sein, unscharf in der Argumentation.

Heinz, redegewandt und schnell, fragt Physikformeln ab. Marianne spielt lieber Kasperletheater. Hinter der aufgespannten Wolldecke erweckt sie das Krokodil zum Leben. Marianne macht Essen und näht. Nach dem Mittagessen nickt sie manchmal auf dem Sofa ein, das Gesicht unter der Zeitschrift. Marianne fährt mit ihrem Fiat Bambino zur Metro. Einmal vergisst sie zur Freude der Kinder eine Schale Trauben auf dem Autodach. Marianne formt Ungeheuer aus Ton. Immer auf der Seite der Vier, die sie nach Kräften liebt und mit denen sie viel Spaß macht.

Die Ferien sind wichtig. Sie quetschen sich in Heinz’ Ford Taunus, dann geht’s nach Dänemark oder Italien. Unterwegs ein Picknick am Straßenrand. Frische und Weite an der Nordsee, Buttermilchwickel gegen den Sonnenbrand in Spanien, Leichtigkeit am Gardasee. Hier lässt man locker, erlaubt sich was. Den Bardolino füllen sie in leere Weichspülerflaschen und bringen ihn mit nach Berlin. Auf den Urlaubsfotos strahlen alle.

Nur in die Kälte darf es nicht gehen, auf keinen Fall Schnee. Wegen Vati.

Silke fällt in den Ferien unter eine Wippe. Bein gebrochen. Sie darf mit der Mutter nach Tempelhof fliegen, sozusagen im Vorgarten landen. Fortan spielen sie und ihre Geschwister Fenster-Bingo: Erscheint ein Fußgänger im Rahmen, bringt er fünf Punkte, ein Fahrrad zehn, ein Flugzeug 20.

Wenn keine Ferien sind, fahren sie jedes Wochenende in den Grunewald, Hütten bauen, Pilze sammeln. Und Patronenhülsen von den Amis. Gibt es Streit, weiß Marianne, durch das Drehen kleinster Schräubchen Frieden herzustellen. Lehrerin ist sie auch gern – aber nur im Klassenzimmer.

Manchmal spüren die Kinder ihre Melancholie

Trotz der Familie fühlt sich Marianne manchmal mit ihrem Frohsinn ganz allein. Ihre Eltern und Verwandten leben in Köthen in der DDR, sie ist mit 19 halb gedankenlos über die grüne Grenze, mutig ihrer Zukunft entgegen. Manchmal spüren die Kinder ihre Melancholie.

Die Kinder werden selbständig. Kreativität wird von der Mutter gelobt, Scharfsinn vom Vater.

Als die vier längst ausgezogen sind, entdecken Marianne und Heinz ihre Liebe zu Frankreich. Sie lernen die Sprache, warum auch nicht? Endlich ist Zeit. Dann der Alleingang: Marianne kauft mit 61 das reetgedeckte Häuschen einer Freundin an der Nordsee. A room of one’s own. Sie verwirklicht einen Traum, renoviert, bastelt, erntet, kocht ein.

Heinz bleibt in Tempelhof. Über dem Ehebett baumelt die runde Papierlampe, auf die er Formeln geschrieben hat. Irgendwann hängt er die erste geschliffene Glasscherbe an einen Zweig im Schrebergarten. Eine geschliffene Scherbe? Als er von seinem Vater bestraft wurde, kniff er immer die Augen zusammen, das Licht brach in den Tränen. Der Regenbogen, den nur er sehen konnte, hat ihn getröstet. Daran erinnert er sich, wenn sich jetzt das Licht in den Scherben bricht.

Marianne an der Nordsee bringt dem Bauern Marmelade und sagt: „Hier bitte, etwas Selbstgemachtes!“ Der Bauer antwortet: „Och Marianne, macht nichts.“ Darüber kann sie sich schlapplachen. Das erzählt sie, wenn die erwachsenen Kinder mit den Enkeln kommen. Endlich wieder Leben im Haus. Sie setzt sich ihre Enkelkinder auf den Schoß: „So reiten die Herren. So reiten die Damen. So rumpelt der Bauer übers Feld.“

Als Heinz Pflege braucht, kehrt Marianne nach Berlin zurück. Die Wohnung am Badener Ring ist voller Katzen, die müssen erstmal weg, bevor sie wirklich wieder bei ihm einzieht.

Nach Heinz’ Tod setzt bei Marianne das große Vergessen ein. Das geliebte Haus und die Reisen sagen ihr nichts mehr, die Gesichter von Jens, Kirsten, Jörn und Silke bleiben. Esther Kogelboom

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