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Ravinthiran Dharmlingam (1961 - 2014)

© Privat

Nachruf auf Ravinthiran Dharmalingam (Geb. 1961): Onkel Ravi und seine Kunden

Mit 17 floh er aus Sri Lanka. In Berlin arbeitete er seit vielen Jahren als Zeitungsausträger. Der Nachruf auf einen Mann, der keinen Urlaub kannte.

Von David Ensikat

Am 7. Januar erhielt Gowry den Anruf: „Ravi ist tot.“

Sein Onkel Ravi aus Berlin. Gowry lebt in Köln. Im Vergleich zur restlichen Verwandtschaft in Sri Lanka, Kanada, Norwegen ist das sehr nah. Dennoch war es, als hätten er und sein Onkel auf unterschiedlichen Planeten gelebt. Gowry ist in Deutschland aufgewachsen, er hat eine Firma, die Programme für Smartphones entwickelt, laufend Meetings, Kundengespräche, Workshops. Ravi war in Sri Lanka groß geworden, in Berlin hatte er Zeitungen ausgetragen, so viel wusste Gowry. Ravi war das schwarze Schaf in der Familie. Das war der, der es zu nichts gebracht hatte, so dachte man. Drei Mal hatte der Neffe seinen Onkel bei Familienfeiern getroffen. Erstaunlich genug, dass Ravi dahingekommen war, sonst blieb er der Verwandschaft fern.

So wenig Gowry von Ravi wusste, er mochte ihn. Ravi war locker, er wirkte noch viel jünger, als er war. Und jetzt, auf einmal, war er tot.

Was für Gowry hieß: Er musste sich kümmern. Wenn ein Tamile stirbt, ist es an seinem ältesten Bruder, die Formalitäten zu erledigen. Lebt der nicht mehr, muss sein ältester Sohn ran, Gowry also.

Gowry fragte seine Mutter. Die wusste zwar kaum etwas über Ravis Leben in Deutschland, aber sie kannte die ganz alte Geschichte. Ravi war das jüngste von fünf Geschwistern, die im Norden von Sri Lanka aufwuchsen. Die Familie war angesehen und wohlhabend, höchste Kaste, Landbesitzer. Der Vater war Polizeichef der Region, der große Bruder auch ein Polizist in höherer Funktion. Ravi ließ die Dinge an der Schule lockerer angehen als seine Geschwister. Aber es waren die siebziger Jahre, die Zeiten wurden schwieriger für Tamilen in Sri Lanka, die Singhalesen vertrieben sie aus ihren Ämtern. Ravi hatte nach dem Abitur keine Chance auf einen Studienplatz. Er kam in Kontakt mit tamilischen Rebellen, was ihn sofort in größte Schwierigkeiten brachte. Vater und Bruder hatten keinerlei Verständnis, sie waren Polizisten. Nach Ravi wurde gefahndet, Ravi floh. Er war noch nicht mal volljährig. Anfang der Achtziger landete er in Deutschland, warum auch immer.

Sein großer Bruder, Gowrys Vater, floh etwas später, auch ihn verschlug es nach Deutschland. Erst viele Jahre später erfuhr er, wo Ravi steckte.

So viel also wusste Gowry von seiner Mutter. Er fuhr jetzt nach Berlin und lernte Ravis Freunde kennen, Sezgin und Klemens. Sezgin betreibt auf dem Kottbusser Damm einen Kiosk, Klemens ist ein alter Neuköllner mit Schnauzer und weißem Zopf. In den letzten Jahren waren die beiden so nah an Ravi wie niemand sonst. Was nicht heißt, dass das sehr nah war. Ravi blieb auf Abstand. Er lud niemanden zu sich nach Hause ein und schlug Einladungen seiner Freunde aus. Er traf sie lieber in Sezgins Kiosk.

„Ravi hat immer gearbeitet“, erzählt Klemens. „Total fleißig war der. Urlaub kannte er gar nicht“, sagt Sezgin. In Ravis kleiner Hinterhauswohnung findet Gowry zwei Tüten, voll mit Briefen und Glückwunschkarten, die Ravi zum Geburtstag und zu Weihnachten von seinen Kunden bekommen hatte.

Ravi, der Zeitungsausträger, sprach immer von „meinen Kunden“. Sie schickten ihm nicht nur Grüße, sondern auch Geld. Sie mochten ihn, diejenigen jedenfalls, die ihm begegnet waren, wenn er zwischen drei und sechs am Morgen die Zeitungen in ihre Kästen steckte oder die Treppen hochstieg, um sie vor die Türen zu legen.

Gowry, der in seiner Firma viel mit Kundenbeziehungen zu tun hat, staunt über das Berufsbild seines fremden Onkels: „Was für ein CRM!“ – CRM: Costumer Relationship Management. In Gowrys Welt läuft so was übers Internet.

Klemens erzählt, wie es in Ravis Welt lief. Er war einfach sehr freundlich und gut gelaunt. Man freute sich, ihm zu begegnen. Einigen seiner Kunden half er aus, gegen ein kleines Geld erledigte er Einkäufe, bei anderen reinigte er den Pool.

„Wenn er knapp mit der Zeit war und zu einem Kunden musste, hat er auch mal das Taxi genommen“, sagt Klemens. „Wahrscheinlich hat ihn das mehr gekostet, als er verdient hat.“

Früher hatte Ravi den Leuten vorm Weihnachtsfest eine Grußkarte in den Briefkasten geworfen, auf der seine Adresse stand. Dann haben sie ihm mit der Post Geld geschickt, und er schickte Dankeskarten zurück. Nachdem ein paar Geldbriefe nicht bei Ravi angekommen waren, schlug Klemens vor, man könne die Sache viel sicherer abwickeln, moderner auch. Er entwarf auf seinem Computer eine Grußkarte mit Ravis Bild drauf und der Kontonummer statt der Adresse. Gowry fand die Kontoauszüge der letzten beiden Jahre: In normalen Monaten war das ein Blatt, im Dezember und Januar eher sechs oder sieben, so viele Weihnachtsüberweisungen gab es.

Hilfe vom LKA

Nicht nur mit seinen Kunden verstand sich Ravi bestens, auch mit den Leuten von der Polizei. Ravi begann seine Schicht gegen zwei am Morgen mit einem Kaffee an der Esso-Tankstelle am Tempelhofer Damm, gleich neben dem Landeskriminalamt. Da kamen auch LKA-Leute vorbei, man lernte sich kennen. Als Ravi mal das Fahrrad geklaut worden war, fuhr einer der Beamten mit ihm im Polizeiauto durch die Gegend, bis sie es gefunden hatten. Ein anderer verhalf Ravi zu einem Termin bei der Ausländerbehörde.

Ravi und die Aufenthaltserlaubnis: ein ewig ungeklärtes Thema. Er sollte mal wieder einen Termin beim Amt machen, und das war schwierig. Sie boten ihm Zeiten an, zu denen er entweder arbeiten oder schlafen musste. Dann gab ihm ein Tankstellen-Bekannter vom LKA seine Visitenkarte mit, auf deren Rückseite er irgendwas geschrieben hatte. Ravi fuhr zum Ausländeramt, zeigte die Karte – und wurde sofort zum Sachbearbeiter vorgelassen.

Seine Akte muss in den achtziger Jahren verloren gegangen sein. Ravi lebte und arbeitete mehr als 20 Jahre als Mann ohne Pass und offiziellen Status in Deutschland. Die Rentenversicherung sah das nicht so eng. Er zahlte lückenlos seine Beiträge.

Als irgendwann eine Kopie der Akte auftauchte, musste er sich regelmäßig bei der Ausländerbehörde melden. Er brauchte nun auch einen Pass, wenn auch zunächst einen sri-lankischen. Er hatte nicht vor, dorthin je zurückzukehren. Aber an einen deutschen Pass kommt ein Mann wie er nicht so leicht, Arbeit hin, Rentenversicherung her. Klemens half ihm bei den Formalitäten, und dann fanden sie, dass Ravi nun auch Deutscher werden sollte. Er hätte den Einbürgerungstest absolvieren müssen, bei dem von 33 Fragen 17 richtig zu beantworten sind. Nur komplette Ignoranten fallen da durch, aber Ravi schob die Sache immer wieder auf. „Versteh ich gar nicht“, sagt Sezgin, „ich kenn’ mich schon ganz gut aus mit Politik. Ich lese immer die ersten Seiten von den Zeitungen. Der Ravi hat auch innen alles gelesen. Der hatte noch viel mehr Ahnung als ich.“

Seit Beginn des Winters klagte Ravi über Schmerzen im Knie. Nie war er bei Ärzten, er war versichert, aber die Praxisgebühr hielt ihn ab. Seine Freunde überredeten ihn, zum Orthopäden zu gehen. Der fand nichts. Ende Dezember ging es Ravi so schlecht, dass er nicht mehr laufen konnte. Klemens brachte ihn ins Krankenhaus. Es war ein Sonntag, danach kam Silvester, und so dauerte es drei Tage, bis Ravi richtig untersucht wurde. Ein Krankheitsherd hatte sich ausgebreitet, bis in den Kopf. Am 7. Januar starb Ravi an einer Hirnhautentzündung. Gut möglich, dass ihn die rechtzeitige Behandlung mit Antibiotika gerettet hätte. Er war 52 Jahre alt.

Gowry ließ eine Traueranzeige auf eine Karte drucken. Die legten sie den Zeitungen bei, die Ravis Nachfolger verteilte. So erfuhren Ravis Kunden vom Tod ihres Austrägers. Gowry durchsuchte die Papiere seines Onkels. Da war eine kleine Lebensversicherung. Sogar einen Bausparvertrag hatte Ravi gehabt. Den hatte er vor zwei Jahren aufgelöst, um 3000 Euro nach Sri Lanka zu schicken für die Krebsbehandlung eines Schwagers . Den beiden Schwestern, die noch in Sri Lanka lebten, hatte Ravi regelmäßig Geld überwiesen, mal hundert, mal zweihundert Euro.

In Berlin hatte er nie eine Familie. Von einer längeren Beziehung wissen Sezgin und Klemens nichts, nur dass Ravi, wenn er mal frisch rasiert und duftend im Kiosk erschien, noch eine Verabredung gehabt haben musste.

Ravi telefonierte in den letzten Jahren öfter mit seiner Schwägerin in Deutschland und mit seinen Schwestern in Sri Lanka. Besuchen wollte er sie aber nicht. Er lebte hier sein Leben, und das war kleiner als jenes, das für ihn vorgesehen war.

In seiner Wohnung stand eine Couch, auf der er schlief. Auf der Lehne der Couch stand ein Bild von seinen Eltern.

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