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Nachruf auf Silvia Radtke (Geb. 1963): Kind ohne Kindheit

Ihren Alkoholismus hatte sie von der Mutter, ihr freundliches Wesen auch. Aber wie kann jemand so freundlich bleiben, der durchmacht, was sie durchmachen musste?

Von David Ensikat

Was macht ein gutes Leben aus? Familie, Liebe, Beruf, das hatte Silvia alles nicht. Man kann auch nicht sagen, dass sie je gesund gewesen wäre. Ihre Mutter war eine versoffene Hure und gab ihr den Alkoholismus mit auf den Weg.

Mit dem Durchtrennen der Nabelschnur machte Silvia ihren ersten Entzug. Sie kam in ein Heim in Westdeutschland – das mag weit weg gewesen sein von der kaputten Welt der Mutter, gut war es nicht. Silvia lernte dort nicht Rechnen und nicht Schreiben, dafür lernte sie diverse Arten kennen, wie ein Mann einem Mädchen wehtun kann.

Wann sie nach Berlin zurückkam, ist unbekannt, bekannt ist, dass ihr Leben auch jetzt keine gute Wendung nahm. Die Straße, Drogen, Prostitution, schließlich die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses Havelhöhe. Ein paar Jahre verbrachte sie dort, bis man sich in den Achtzigern dafür entschied, Menschen wie sie nicht länger wegzuschließen.

Die Kürzel EU und SPD waren in Silvias Leben von einiger Bedeutung: SPD für „Sozialpsychiatrischer Dienst“, das ist die Amtsabteilung, die den Überforderten die Amtsgeschäfte abnimmt. EU für „erwerbsunfähig“. Silvia half hin und wieder in einer Kneipe aus; eine regelmäßige Arbeit war kaum vorstellbar. Sie musste mal in einem Altersheim putzen; ein Gericht hatte das angeordnet. Silvia gefiel die Strafe sehr, aber nach einer Woche war sie abgegolten.

Einmal in jeder Woche musste sie zum Amt, um ihr Geld zu holen, 60 Euro. Zigaretten und Bier für sich, Futter für die Katzen – das waren ihre größten Haushaltsposten. Frau K. vom Bezirksamt Schöneberg war für die Sozialfälle der Gegend um das Gasometer zuständig, wo heute die Jauch-Talkshow aufgezeichnet wird. Damals landeten viele Sozialfälle hier, weil die Mieten billig waren. Silvias Wohnung im Hinterhaus: für andere ein verqualmtes Loch, für Silvia ein Palast.

Frau K. konnte über Silvia nur staunen. Die junge Frau war von einer Liebenswürdigkeit, die selten ist bei Leuten, die von der einen Flasche zur nächsten leben und denen ein geregelter Beruf so fremd erscheint wie der schwäbischen Hausfrau der Sirtaki. Wer von denen fragt schon nach, wie es der Frau vom Amt geht? Silvia tat das. Frau K. sagt von sich, dass sie auf Distanz achtgibt. Sie siezt ihre Klienten. Zu Silvia hat sie Du gesagt, so wie Silvia zu ihr Du sagte, „Du“ und „Frau K.“.

Silvia mochte versoffen gewesen sein wie ihre Mutter, sie hatte mit den Jahren auch gelernt, sich der Männer zu erwehren, kurze Haare, großes Maul, aber eigentlich ist sie ein Kind geblieben, das sich anlehnen möchte und das vertraut. Da ähnelte sie ihrer Mutter, die war genauso, sagt Frau K.

Wie ein Wunder

Friederike, die Frau vom Pflegedienst, erzählt die Geschichte mit dem Schulranzen. Der Pflegedienst veranstaltet hin und wieder Ausflüge mit denen, die noch laufen können. Einmal hatte Friederike ihren Sohn dabei. Weil er vorher in der Schule gewesen war, hatte er seinen Ranzen mit. Den schnallte Silvia sich um und griff die Hand von Friederike: ein Schulkind an der Hand der Mutter. So ein Kind wäre Silvia gern einmal gewesen.

Vor vier Jahren hatte der Sozialpsychiatrische Dienst den Pflegedienst hinzugezogen. Silvia war krank, der gleiche Krebs im Mund, an dem ihre Mutter gestorben war, einer, den man vom Saufen und Rauchen kriegt. Sie konnte kaum noch schlucken und musste sich über einen Schlauch ernähren. Dabei brauchte sie Hilfe, und so kam Friederike in ihr Leben. Der ging es ähnlich wie Frau K.: Sie war angetan von Silvias freundlicher Art, davon wie sie die kleine Zuwendung genoss, die ein Pflegedienstler spenden kann. Später, als Friederike wusste, was für ein Leben Silvia hinter sich hatte, erschien sie ihr wie ein Wunder. So viel Vertrauen, so viel Dankbarkeit.

Wenn sie sie wusch, merkte sie, wie Silvia das genoss. Anderen ist die Abhängigkeit zuwider. Silvia war froh, dass jemand sich um sie kümmerte. Kein Mann, der sie anfasste, sondern ein Helfer.

Es ging ihr dreckig, doch wenn Friederike sie verließ, um zum nächsten Fall zu eilen, rief sie ihr hinterher, sie solle bloß mit ihrem Fahrrad aufpassen, und sie werde für sie beten. Sie hatte keine Kirche, sie hatte einen lieben Gott.

Für ihr Begräbnis ist nun auch das Amt zuständig. Eine anonyme Grabstelle wird es sein, günstigste Variante. Die Helfer, Pflegedienst, Physiotherapie, Ergotherapie, Sozialdienst, alles Menschen, die sie mochten, werden kommen. Mal sehen, ob es einer ihrer Freunde schafft, mit denen sie früher getrunken hat. Das Amt wird einen Zettel mit dem Termin in das Haus hängen, in dem sie wohnte.

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