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Werner Castorf im Januar 2012 vor dem Überrest seines Geschäfts.

© Mike Wolff

Nachruf auf Werner Castorf (Geb. 1922): Bestelle immer doppelt so viel, wie du absetzen könntest

Sein Großvater hatte das Geschäft in Prenzlauer Berg gegründet, er musste es schließen. Ein paar Monate später ist er gestorben. Ein Nachruf auf den Vater des Volksbühnenchefs Frank Castorf

Von David Ensikat

Vor 25 Jahren erreichte Werner Castorf das Rentenalter. Ein Einschnitt in seinem Leben war das nur insofern, als dass er jetzt in den Westen reisen durfte. Sonst blieb alles wie gehabt. Er verließ seine Wohnung in Prenzlauer Berg jeden Morgen gegen neun, lief zu seinem Geschäft ein paar Straßen weiter, verkaufte Jalousien und Rollos an dankbare Kunden und kehrte gegen sieben am Abend wieder heim.

Das war im Jahr 1987, 40 Jahre nachdem er das Geschäft von seinem Vater Willy Castorf übernommen hatte, 67 Jahre nachdem Willy Castorf das Geschäft von seinem Vater Albert Castorf übernommen hatte, 88 Jahre nachdem Albert Castorf das Geschäft im Eckhaus Pappelallee/Stargarder Straße eröffnet hatte. 25 Jahre bevor er, Werner Castorf, den Laden würde schließen müssen.

Nicht weil er zu alt oder gar krank sein würde in diesem Frühjahr 2012, davon kann keine Rede sein. Der Vermieter hat ihm gekündigt, weil Castorf ein paar Monatsmieten nicht gezahlt hat. Es waren die Wintermonate, in denen das Geschäft schlecht lief. Das war schon lange so, er hatte die Miete immer im Sommer nachgezahlt. Nun aber ist Schluss damit, Schluss mit Jalousien-Castorf an der Pappelallee. Etwas Neues soll her, „bestimmt wat Gastronomischet“, mutmaßt Castorf.

Vor zehn Jahren musste er schon aus dem großen Geschäft, das sein Großvater bezogen hatte, raus, weil ein Restaurant mehr Miete erwirtschaften konnte als ein Fachgeschäft für Sonnenschutz und Fensterverdunkelungen.

Geboren in eine Familie, die vom Eisenwarenhandel lebte, gestorben ein paar Monate nachdem er das Geschäft hat schließen müssen: Natürlich kann man Werner Castorfs Leben an der Geschichte des Geschäfts entlang erzählen. Aber es geschah ja auch noch anderes, zuweilen Wichtigeres. Der Krieg etwa, fünf Jahre Soldatenleben, 16 Granatsplitter in der linken Hand. Den Vater hatte es im Ersten Weltkrieg an der rechten erwischt. Die Liebe und die Ehe; mit seiner Frau lebte Werner Castorf bis zum Schluss. Ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung hatten sie im Jahr 1947 bezogen. Den Schutt vom Krieg hatten sie noch selbst hinausgetragen. Als seine Frau drei Jahre später schwanger war, fragte das Paar bei den Behörden an, ob es auch eine Wohnung mit einem halben Zimmer mehr bekommen könne, erhielt eine Absage und lebte weitere 65 Jahre hier. Frank Castorf, der Sohn, wuchs auf und trat nicht ins Geschäft ein, weil er ein ähnlich sturer Kopf war wie die Eltern. Er machte statt dessen Theater, macht es noch heute, hat es zu Ruhm und Ehre gebracht und seinen Eltern viele lärmende und lange Volksbühnenabende beschert. Derlei neue Kunst war ihnen eher fremd, der Stolz auf den Sohn aber so groß, dass sie alle Premieren besuchten und sie, obgleich sie immer am Rand saßen, nie vor dem Schlussapplaus verließen.

In der DDR-Zeit hatte Werner Castorf noch ein Hobby. Das war zwar teuer, aber er konnte es sich leisten, da er mit begehrten Gütern handelte und sämtliche Feinheiten des kleinkapitalistischen Wirtschaftens im Sozialismus kannte (eine Regel: Bestelle immer doppelt so viel, wie du absetzen könntest, dann gibt es Hoffnung, dass du halb so viel bekommst). Das Hobby: Rallyefahren. Bis zum Landesmeister hat er es gebracht. Als DDR-Bürger mit viel Geld und guten Beziehungen West-Autos kaufen konnten, war es vorbei. Werner Castorf war so einer, aber die schnellen West-Autos waren aus nachvollziehbaren Gründen bei DDR-Rallyes nicht zugelassen.

Werner Castorf fand sich damit ab, fuhr mit seinem Citroen schnell, doch außerhalb jeglicher Wertung und führte das Geschäft weiter wie eh und je. Er stellte sich von der Ost- auf die Westwirtschaft um, was vor allem hieß, nicht mehr um die Waren bei den Herstellern zu buhlen, sondern um das Geld der Kunden. Dem leutseligen Mann mit dem soliden Selbstbewusstsein fiel auch das nicht schwer.

Der Niedergang traf ihn hingegen hart, erst der Umzug in die „Murkelkammer“, wie er den kleinen Ersatzladen nannte, dann vor einem Jahr die Räumungsklage des Vermieters. Im Frühjahr war endgültig Schluss, in Werner Castorfs Garten stapelten sich noch die Waren, die er nicht mehr losgeworden war. Wohin nur mit dem ganzen Zeug? Und dann noch dieser Alltag. Er stöhnte: „Ick bin ja immer um neune von zu Hause weg und abends gegen sieben wieder da gewesen. Da war Friede Freude Eierkuchen. Und jetzt? Dit wird nich’ leicht.“

Er hatte noch sein Auto, einen kleinen Mercedes, ein Jahr zuvor hatte er den Seniorenführerschein gemacht. Er sagte, dass neben dem Geschäft das Autofahren ihm das Wichtigste im Leben sei. Aber wozu noch Autofahren? Mit dem Auto hatte er vor allem seine Waren transportiert. David Ensikat

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