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Berlin: Dieter Thieme (Geb. 1929)

"Denen irgendwie helfen - so ging's los."

Für die Staatsoberen der DDR war der Fall klar: Die „Girrmannbande“, auch genannt „Unternehmen Reisebüro“, war eine Menschenhändlerorganisation, die aus Profitgier in den Jahren nach dem Mauerbau hunderte DDR-Bürger in den Westen schleuste.

Wahr ist: Dieter Thieme, Detlev Girrmann und Bodo Köhler gelang es bis 1964 mit zahlreichen Freunden und Helfern die Grenzkontrolleure der DDR durch immer neue Tricks zu narren – was anfangs nicht schwer war, denn die Kontrollen waren noch so unbedarft wie die Motive der Fluchthelfer.

Die Mitglieder der Gruppe waren fast alle Studenten, die ihren Kommilitonen, die im Osten wohnten, die Fortsetzung ihres Studiums an der Freien Universität ermöglichen wollten. „Denen irgendwie helfen – so ging’s los.“ Aber sehr schnell erweiterte sich der Kreis derer, die Hilfe suchten.

Für Uwe Johnson, der damals schon im Westen weilte und der seine spätere Frau zu sich holen wollte, war die „Girrmann- Gruppe“ Helfer in der Not und zugleich ein faszinierendes literarisches Sujet.

Er führte zwei ausführliche Interviews mit Detlev Girrmann und Dieter Thieme, die lange als verschollen galten, inzwischen aber als Buch zugänglich sind.

Immer wieder umkreist Johnson in den Gesprächen die Frage, warum die beiden ihre Freiheit, ihr Leben und ihr berufliches Fortkommen aufs Spiel setzten, um anderen Menschen zu helfen, ungeachtet der Frage, ob diese Menschen es wert waren – „als sei Beistand für Einzelne das Mindeste, wo nicht allen geholfen wird“.

Aber derlei abgehobenes Ethos war nur selten Gegenstand der Gespräche in der Gruppe. Sicher, wenn ein Mann bat, seine Freundin herüberzubringen, seine Ehefrau aber intervenierte, dann wurde der moralische Aspekt kurz erörtert – und die Flucht dennoch organisiert.

Im Fall Dieter Thiemes scheint die Antwort ohnehin einfach. Er, der in behüteten Verhältnissen in Magdeburg aufgewachsen war, hatte den Krieg erlebt, die Gefangenschaft, und ertrug den Gedanken nicht, erneut in einer Diktatur leben zu müssen.

Er wollte Jura studieren, wurde aber nicht zum Studium zugelassen; er wollte politisch wirken, bekam aber schnell die Grenzen sozialistischen Mitwirkens aufgezeigt. Als er dann Flugblätter verteilte und Zeitschriften aus dem Westen einschmuggelte, kam er mit vierzehn Gleichgesinnten vor Gericht.

Er leugnete, markierte den Dummen und kam „glimpflich“ davon: drei Jahre Haft, anfangs Einzelhaft. Ein kleines Schachdeckchen, aus Stofffäden angefertigt, die er aus Handtüchern gezogen und mit einer gestohlenen Nadel verwoben hatte, hielt ihn damals am Leben. Er hat es zeitlebens aufbewahrt.

Nach zwei Jahren wurde er vorzeitig entlassen und ging nach West-Berlin. Er nahm sein Jurastudium auf und arbeitete nebenher im Studentenwerk, wo auch Detlev Girrmann untergekommen war.

Als die Teilung der Stadt drohte, war ihm klar: Ein Land wird dann zum Knast, wenn es seine Bürger nicht gehen lässt, obwohl sie gehen wollen. Die Pflicht zu handeln ergab sich wie von selbst. Trotz der Angst. „Es wäre ja ein Leichtes gewesen, uns umzubringen …“

Dank erhielt er dafür wenig, bedrückender war, dass die Frage „Kann ich helfen?“ so selten kam. Und dass der Verdacht aufkeimte, die Geflohenen hätten durch allzu große Redseligkeit die weitere Arbeit der Helfer sabotiert, denn die Misserfolge häuften sich.

Aber die Verräter waren in den eigenen Reihen, wie sich nach der Wende herausstellen sollte, zwei Spitzel, die IM „Hardy“ und „Franz Fischer“ hatten Freunde und Fluchtwege verraten, der eine für Geld, der andere für das silberne Lorbeerblatt der NVA.

Als die Möglichkeiten der Gruppe sich dadurch zunehmend erschöpften, „die Pässe liefen nicht mehr, die Autotouren wurden zu heikel, die Tunnel waren verraten“, gab Dieter Thieme auf. Er beendete sein Studium, wurde Senatsrat, führte ein ruhiges Leben, reiste gern. Er hat nie ein Aufheben um seine Zeit als Fluchthelfer gemacht. Bleibt die Frage: Woher rührte damals sein Mut? Die Antwort ist einfach, aber sie klingt ein wenig antiquiert: Er besaß ein Gefühl für Anstand.

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