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"Nachtwölfe"-Mitglieder posieren auf einem Panzer der Roten Armee im deutsch-russischen Museum in Berlin-Karlshorst.

© Hannibal Hanschke/Reuters

"Nachtwölfe" in Berlin: Lasst die Wölfe heulen!

Die Russen sind da – auf Motorrädern. Am Freitagvormittag haben sie Berlin-Karlshorst erreicht. Nachdem verzweifelt versucht wurde, die „Nachtwölfe“ fernzuhalten. Aber wie gefährlich sind ein paar spinnerte Lederheinis wirklich für Berlin? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jens Mühling

Von Osten her wird das Dröhnen der Motoren anschwellen, immer lauter, bis die ganze Stadt bebt und zittert. Mütter werden ihre Töchter von der Straße zerren, während in Treptow die ersten schweren Stiefel die Parkwiesen aufreißen. Verschreckte Spaziergänger gehen hinter Bäumen in Deckung, die Hände auf die Ohren gepresst, um das fremdsprachige Kampfgeheul nicht zu hören, mit dem sich die finsteren Horden ihren Weg zum sowjetischen Mahnmal bahnen. Ihre Lederkutten schlucken den Glanz der Sonne, Dunkelheit senkt sich erst über Berlin, bald aber über das gesamte Abendland – denn heute ist der Tag, an dem die Russen kommen.

So oder ähnlich die Angstfantasie vor dem 9. Mai in Berlin – weshalb die geplante Ankunft eines russischen Motorsportclubs mit den vereinten Kräften gleich mehrerer EU-Staaten torpediert wurde. Polen belegte die „Nachtwölfe“ mit einem generellen Ein- und Durchreiseverbot, Deutschland ließ sich stattdessen einen mühsamen Dreifrontenkrieg aufzwingen: In Travemünde setzten die Behörden einen einsamen Wolf zurück auf die Fähre nach Finnland, am Flughafen Schönefeld annullierte man ein paar Flugwölfen die Visa, in Bayern schließlich durfte ein russisch beflaggter Motorkonvoi erst passieren, als die Polizei amtlich festgestellt hatte, dass auf den Choppern keine echten Russen, sondern nur europäische Ersatzwölfe saßen.

Jetzt dürfen sie doch einreisen, na gut. Aber nachdem die deutsche Demokratie ihre Wehrhaftigkeit somit zu Lande, zu Wasser und in der Luft unter Beweis gestellt hat, fragt sich doch, welchen Spatzen der ganze Kanonendonner eigentlich gilt. Gewiss: Sympathische Zeitgenossen sind sie nicht, diese Nachtwölfe, und lupenreine Demokraten schon gar nicht. Bei einem ihrer Betriebsausflüge rollte vor ein paar Jahren ein lederkostümierter Wladimir Putin mit, ihre BMWs dekorieren die Russen-Biker gerne mal mit Stalin-Wimpeln, ihr Anführer Alexander Saldostanow ist ein bekennender Neo-Imperialist, der kurz nach der Annektierung der Krim eine martialische Blut-und-Boden-Show in Sewastopol inszenierte.

Durchgeknallte Sowjetnostalgiker wollen fahrtwindverknickte Nelken niederlegen?

Andererseits: Seit wann bestehen Motorrad-Gangs aus Musterbürgern? Und wie gefährlich sind ein paar spinnerte Lederheinis wirklich für Berlin? Saldostanows Krim-Show war ein geschmackloses Spektakel, aber annektiert wurde die Halbinsel von bewaffneten Soldaten, nicht von heulenden Wölfen. Eher unbeholfen als bedrohlich wirkte seinerzeit auch Putins Gastauftritt als Biker: Damit der Präsident nicht umkippte, setzten ihn die Nachtwölfe vorsorglich auf einen Dreirad-Chopper. Und Stalin-Wimpel, nun ja, mit denen schmückt auch mancher Berliner Altkommunist an Feiertagen seinen Rollator.

Nicht alles, was beknackt ist, ist verboten, ein paar Spinner mehr hält Berlin aus. Zumal sich der angestrebte Effekt der Biker-Blockade ins Gegenteil verkehrt: Man wollte Putin keine Plattform für Propaganda bieten – und tut es mit voller Motorenstärke. Wer in den letzten Tagen die russische Medienberichterstattung über die Odyssee der Nachtwölfe verfolgte, sah das Zielland ihrer Reise in ungute Traditionslinien gestellt. Denn angefangen hat die ganze Geschichte schließlich damit, dass sich 1941 ein paar nicht ganz lupenrein demokratische Motorradstaffeln von Berlin aus auf den Weg nach Moskau machten – nicht umgekehrt. Dass diese historischen Höllenengel Europa nicht mehr terrorisieren, ist unter anderem der Sowjetunion zu verdanken, an deren 20 bis 30 Millionen Kriegstote traditionell am 9. Mai gedacht wird. Auch wenn Putin den Weltkriegssieg heute gern zum Kriegsargument verdreht, kann man den Russen schlecht vorschreiben, wie sie ihrer Opfer gedenken sollen. Ein paar durchgeknallte Sowjetnostalgiker wollen fahrtwindverknickte Nelken in Treptow niederlegen? Sollen sie machen.

Sollten Ihnen also heute rund um das Mahnmal doch ein paar versprengte russische Motorsportler oder deren europäische Sympathisanten über den Weg knattern, begegnen Sie ihnen am besten einfach so, wie die Berliner ihnen ohnehin begegnet wären, hätte man sie einfach machen lassen: mit einem Gähnen.

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