zum Hauptinhalt

Berlin: Nahaufnahme

Jetzt online in unserem Bild-Ton-Porträt: Der frühere Wirt des „Schusterjungen“

Von David Ensikat

Michael Michaelis arbeitet wieder! Er fährt jetzt Autoersatzteile durch Berlin, 15 Stunden pro Woche, gerade so viel wie er als Rentner arbeiten darf. Er ist jetzt 61 Jahre alt, der Mann, der ihn eingearbeitet hat, war zehn Jahre älter als er. Für die Spedition arbeiten vor allem Rentner.

Herr Michaelis sagt: „Mit Leib und Seele war ick mal Gastronom“. Vor einem Jahr gab er den Leib-und-Seele-Beruf auf, freiwillig. 24 Jahre lang hat er mit seiner Frau den „Schusterjungen“ geführt. Die Eckkneipe in Prenzlauer Berg, Danziger Straße Ecke Lychener war ein Überbleibsel aus vergessener Zeit. Im „Schusterjungen“ hieß der Café noch Kaffe, zu essen gab es Kassler statt Pasta. Die Kneipe gibt es immer noch, die Betreiber geben sich Mühe, den Laden ähnlich fortzuführen, denn in Reiseführern wird er als Sehenswürdigkeit gehandelt. Aber der Wirt und die Wirtin fehlen – was man merkt.

1986 haben die Michaelis die Kneipe übernommen, als Angestellte der staatlichen „Handelsorganisation“, HO. 1990 haben sie das Lokal gekauft und 2010 verkauft. Es wurde ihnen zu viel, es gab Missstimmigkeiten mit den Angestellten und ein gutes Angebot.

Nun saßen sie zu Hause und hatten ganz viel Zeit. Das waren sie nicht gewöhnt. Der längste Urlaub, an den Herr Michaelis sich erinnern konnte, lag 15 Jahre zurück, sieben Tage Ägypten. Für 2010 hatten sie drei Tage Spreewald geplant, „weil ein Tach wär’ zu wenig“.

Wir haben den Wirt im Ruhestand im Mai besucht, er saß auf der Couch, ein Haufen Fernbedienungen lagen auf dem Tisch, er erzählte, dass es auch Vorteile habe, zu Hause Sport zu gucken und nicht in der Kneipe, denn zu Hause kann er vom Fußball zum Handball umschalten, wenn ihm danach ist. Und er sagte: „Ick wollte Ruhe und Erholung. Aber nach zehn Tagen bin ick erholt genug.“ Der Kontakt zu den Leuten fehlte ihm, zu den Gästen, den Angestellten und den Händlern.

Seit er 14 war, hat er in Kneipen gearbeitet, 46 Jahre lang. Und nun auf einmal nicht mehr? „Ein richtig blödes Gefühl is dit.“ Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich schließlich nach was Neuem umgesehen. Sie haben Gaststätten und Kneipen und Bistros besucht, die zum Verkauf standen, und sie haben eingesehen: Es gibt nichts, wofür man weniger arbeiten müsste als damals für den „Schusterjungen“. Außerdem braucht man einen langen Atem. Es musste auch nicht unbedingt sein, die Rente reicht schon aus.

Aber man muss doch etwas tun! Man kann doch nicht nur zwischen dem Fernseher zu Hause und dem kleinen Garten hin- und herpendeln!

Im März hat Michael Michaelis die Anzeige für den Speditionsjob entdeckt, jetzt ist er wieder unterwegs. Mit ähnlichem Stolz, wie er von seinem ersten Verdienst erzählt hat – 16 Ostmark fürs Spülen im Gesellschaftshaus Grünau –, spricht er jetzt von seinem wiedergewonnenen Leben: „Ick bin wieder Arbeitsplatzbesitzer!“ David Ensikat



Dieses und weitere Bild-Ton-Porträts von Mike Wolff (Fotos) und David Ensikat (Interviews) finden Sie unter der Internetadresse:
www.tagesspiegel.de/nahaufnahme

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false