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Berlin: Neue Grenzerfahrung: Jede Laterne ist verdächtig

Wie Denkmalschützer Leo Schmidt Reste der Teilung aufspürt

Leo Schmidt überquert die Puschkinallee direkt neben der doppelten Pflastersteinreihe, die an den Verlauf der Mauer zwischen Kreuzberg und Treptow erinnert. Aber er beachtet die Markierung kaum; sein Blick schweift umher wie der eines Bildungsreisenden. Jede Laterne, jedes vergitterte Fenster, jeder Zaunpfahl, ja jeder Blumenkübel ist verdächtig. Neuerdings sogar weltkulturerbeverdächtig.

Leo Schmidt, 50 Jahre alt und Professor für Denkmalpflege an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, hat sich diesen Blick während der zwei Jahre angewöhnt, die er im Auftrag des Senates durch Berlin gezogen ist, um die Reste der Teilung zu dokumentieren. „Viele denken ja, es ist nichts mehr da. Aber wir haben 800 Seiten“, sagt er und geht achtlos an zwei Mauersegmenten vorüber: „Das Material dürfte zwar echt sein, aber als ich das letzte Mal hier war, standen die noch nicht hier.“ Hinter den Segmenten steuert Schmidt ein zugewuchertes Grundstück an, mehr Müllkippe als Garten. Gestrüpp rankt sich um zwei mannshohe Betonteile. Treffer: Die Platten versperren ein Abflussrohr, damit niemand von Treptow nach Kreuzberg schlüpfen konnte.

Schmidt steuert das Bewag-Gelände an und deutet auf die fröhlich-bunt bemalte Grundstücksmauer: „Die war Teil der Hinterlandsicherung.“ Ein paar Schritte weiter dreht er sich um und zeigt auf drei Laternen aus Beton. Die Lampen gehörten zur „Lichttrasse“, die keine Bewegung im Dunkeln ließ. Am Spreeufer vor der Arena stehen noch drei alte „Peitschenlampen“. Schmidt holt ein Foto der DDR-Grenztruppen aus den 80er Jahren hervor, auf dem die Laternen zur Uferbefestigung zeigen. Inzwischen hat jemand sie um 180 Grad gedreht, weil seit der Wende das Licht eher auf dem Hof gebraucht wird als auf dem Wasser. Mitten auf dem Fluss steht der ergraute Steg, der Flutgraben und Landwehrkanal Richtung Kreuzberg abschirmte. Und am Ufer ein renoviertes Haus, dessen Fenster auf dem DDR-Foto zugemauert waren.

Seine Recherchen hat Leo Schmidt mit Studenten begonnen. „Aber die haben nur die Hälfte gesehen“, sagt er. „Vielleicht waren sie zu ungeduldig.“ Also zog er mit seinem Assistenten allein los. Und entwickelte den Grenzerblick. Begriff den strategischen Sinn scheinbar normaler Zäune. Erkannte, dass man die engen Straßen zwischen Alt-Treptow und Neukölln nur sichern konnte, indem man unübersichtliche Winkel zumauerte, Hauswände weiß anpinselte und am Ende der Straßen im Grenzgebiet schwere Blumenkübel aufstellte, die einen Lastwagen schon vor der eigentlichen Mauer stoppen würden. Freies Schussfeld war gut, ausgefeilte „Hinterlandsicherung“ war besser. Der Schulhof in der Wildenbruchstraße gehörte dazu: Links eine hohe Mauer zu den Wohnhäusern, rechts eine zum Grenzstreifen. Dazwischen der kahle Hof. Am Blitzableiter des Schulhauses eine Art Harke, damit niemand hochklettern konnte. Ringsum an den Brandmauern Lampen. An einer Laterne in der nahen Bouchéstraße ist noch die Farbmarkierung erkennbar, die den Grenzern signalisierte, von welchem Punkt an auch sie für ihre Kameraden als Grenzverletzer zu gelten hatten. Im freien Schussfeld zwischen den beiden Häuserfronten.

Die Details faszinierten Leo Schmidt. Ihre Summe erschreckte ihn. Deshalb will er die unscheinbaren Narben unter Unesco-Schutz wissen: „Diese Mentalität, dass kein Einziger lebend durchkommen darf. Typisch deutsch. Einmalig, das in einer Millionenstadt zu schaffen, in der ja keine verfeindeten Volksgruppen getrennt werden mussten.“

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