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Neuer Berlin-Merian: Blick ins Gesicht der Botox-Diva

Nach fünf Jahren erscheint ein neues Merian-Heft über Berlin – mit dem neuen Westen, Neuköllns Aufschwung und der Lücke als Chance.

Im hektischen Geschäft einer Tageszeitung geht oft der Blick fürs große Ganze in Berlin verloren. Deshalb ist es gut, dass bisweilen jemand einen Blick von außen auf die Stadt wirft und mit etwas Geduld die langfristigen Entwicklungslinien aufdröselt. Für diese Arbeit gibt es Magazine wie „Merian“, die einen ganz eigenen Weg zwischen Reportage, Essayistik und ein wenig Reiseführerroutine suchen – und, wenn es gut geht, auch Insidern Neues über ihre Umgebung erzählen können.

Am Donnerstag erscheint das neue Berlin-Heft, und es vermag diese Erwartung durchaus zu erfüllen. Nach fünf Jahren war aus Sicht von Chefredakteur Andreas Hallaschka ein neuer Blick überfällig, und der gewählte Ansatz, sagt er, sei der einer personalisierten Momentaufnahme. Das Cover führt insofern in die Irre, als es den bunt illuminierten Dom und den Fernsehturm zeigt, denn trendgemäß geht es drinnen doch eher um die Entwicklung des Westens; zentrales Stück ist ein Spaziergang mit Martina Gedeck durch Charlottenburg.

Auch Neukölln wird in allen aktuellen Facetten abgebildet, ein Interview mit Heinz Buschkowsky eingeschlossen. Judith Holofernes berichtet von ihrem Kreuzberger Kiez, Adriana Altaras kommentiert das aufblühende jüdische Leben, das eher mit der neuen Mitte verbunden ist. Der in derlei Zusammenhängen unvermeidliche Wladimir Kaminer äußert sich diesmal, hochaktuell, zu seinen südwestdeutschen Nachbarn und wie sie Ordnung in die Hausgemeinschaft bringen. Andere, interessant ausgesuchte Leitfiguren sind der Maler Johannes Grützke und die Schriftstellerin Katharina Hacker.

Interessant zu sehen ist, wie der Mut der Redaktion zur Lücke schöne lange Bildstrecken ermöglicht, dafür aber manches scheinbar obligatorische Thema verdrängt. Ob das ein Fehler ist, mag jeder für sich selbst entscheiden: So ist kaum ein Wort über die Universitäts- und Forschungsstadt Berlin zu lesen, und auch der sonst in solchen Publikationen allgegenwärtige kulinarische Aufschwung bleibt unberücksichtigt. Man wird allerdings auch nicht sagen können, dass es diesen Themen gegenwärtig an journalistischer Aufmerksamkeit mangelt.

Gleiches gilt für die aktuelle Flughafenkatastrophe, die keine Rolle spielt, und auch die Tourismus-Klassiker stehen zurück. „Wir wollten unbedingt ein museumsinselfreies Heft machen“, sagt Hallaschka. Das ist weitestgehend gelungen, denn der Fokus des Museumsberichts liegt auf wichtigen Häusern der zweiten Reihe wie der Liebermann-Villa, dem Museum für Kommunikation und der Sammlung Scharf-Gerstenberg.

In der Mitte des Heftes lassen sich zwei Seiten ausklappen – eine gute Idee. Denn zu sehen sind zwei Satellitenbilder der Berliner Mitte 1989 und 2010, ein eindringlicher Weg, die Veränderung der Stadt ohne viel Gerede deutlich werden zu lassen.

Ein journalistisches Leitmotiv der Neuausgabe ist die Idee der Lücke, deren Nutzung oder Auffüllung als zentrales Berliner Thema interpretiert wird – nachzulesen im einleitenden Essay von Marcus Jauer, ausgeführt im Bericht über die anarchischen Stadtgärtner, die den klassischen Schrebergärtner langsam aus dem Blick drängen.

Das Kapitel über die Macht kommt ohne die Mächtigen aus. Gezeigt werden nur ihre Schreibtische: Friede Springers mit Erinnerungsstücken übersäte Holzplatte, Wolfgang Schäubles Effizienz-Altar, Rüdiger Grubes Panorama-Stellwerk, Günter Jauchs Zettelwirtschaft.

Das ist die Gegenwart. In die Vergangenheit der Stadt führt ein Bericht von Mathias Mesenhöller über die archäologischen Schichten Berlins. „Berlin-Mitte ist eine Diva auf Botox“ beginnt er, „kaum Backstein-Runzeln, kein winkliges Fachwerk“. Gut getroffen.

Ab 24.1., 7,95 € im Zeitschriftenhandel

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