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Berlin: Neukölln: Die Stuhlbesetzer

Der antike Spiegel: auf dem Trödelmarkt entdeckt, gefeilscht und rein mit ihm in den Bus. Die moderne Stehlampe: gesehen, gekauft und ab mit ihr in die U-Bahn.

Der antike Spiegel: auf dem Trödelmarkt entdeckt, gefeilscht und rein mit ihm in den Bus. Die moderne Stehlampe: gesehen, gekauft und ab mit ihr in die U-Bahn. Die neue Wohnung, nur wenige Schritte von der alten entfernt: das Mobiliar geschultert und den Miettransporter gespart. Auch der barocke Stuhl, der durch den Britzer Garten getragen wurde, hat schon etliche Umzüge hinter sich. Nun ist er im Böhmischen Dorf zur Ruhe gekommen - wenn er nicht gerade in Sachen Kultur unterwegs ist. Seit kurzem spielt der Vierbeiner mit den Polstern aus altroséfarbenem Samt nämlich die tragende Rolle bei einer Kunstaktion, die mit einem vierstelligen Betrag vom Bezirk unterstützt wird.

"Wir waren perplex, als wir erfuhren, dass unser Projekt zu den fünfen von dreißig vorgestellten gehört, die vom Beirat für förderungswürdig befunden wurden." Eigentlich hatte Sabine Aichele, Besitzerin des Stuhls und Urheberin der Idee, ihn an typischen Orten im Kiez zu platzieren, um Passanten auf ihm abzulichten, den Gang zum Kulturamt nur angetreten, weil die Gruppe mit dem Konzept an "48 Stunden Neukölln" teilnehmen wollte. Der zuständige Mitarbeiter war jedoch von dem Plan so angetan, dass er riet, Zuschüsse aus dem Topf dezentraler Kulturarbeit zu beantragen. Die Fünf - drei Frauen und zwei Männer zwischen 30 und Mitte 40, die in Neukölln leben und vor zwei Jahren über eine Kleinanzeige zusammen kamen, um gemeinsam Kultur zu konsumieren - gaben sich den Namen "EnnKa44", ihrer Foto-Aktion den Titel "Mit vier Beinen durch Neukölln" und - bei Bekanntwerden der Haushaltssperre alle Hoffnungen auf.

Um so größer war der Jubel, als sie Ende voriger Woche von der positiven Entscheidung erfuhren. Ungläubiges Staunen herrschte indes bei den Besuchern des Britzer Gartens. Ob in der Warteschlange am Eingang zum hundefreien Gelände, auf der Terrasse des Cafés am See, am Badestrand oder auf den kilometerlangen Wegen des Gartens: Wer bei sengender Sonne statt Kühlbox oder Liege- einen Lehnstuhl für unverzichtbar hält, dem sind fragende, amüsierte Blicke sicher. Antworten wollten jedoch zumeist nur die hören, die angesprochen wurden, ob sie Lust hätten, sich auf dem Stuhl fotografieren zu lassen. "Was macht Ihr mit den Bildern?" "Die sind für eine Ausstellung." "Was kriege ich für ein Foto?" "Nichts." "Verkauft Ihr mir den für 50 Mark?" "Auf keinen Fall." "Wo werdet Ihr außerdem Fotos machen?" "Zum Beispiel im Forum Neukölln, am Hermannplatz, in der U 7 und der U 8, im Arbeitsamt, im Hallenbad in der Ganghoferstraße und in der Gropiusstadt." "Welchen Hintergrund hat die Aktion?" "Einerseits ist der Stuhl Symbol für die Verbindung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, andererseits wollen wir die Vielfalt des Bezirks und seiner Bewohner dokumentieren." Sobald letztere Platz genommen hatten - zögernd oder spontan, im Bade- oder schickem Feiertagsdress, allein, mit Partner, Geschwistern, der Familie oder Clique - gingen die drei EnnKa44-Fotografen in Positur. Vier Stunden später waren 200 Bilder im Kasten: "Am Ende der Aktion werden es Tausende sein, die wir auch alle ausstellen wollen - die 50 besten im Poster-Format." Denn der Gruppe geht es nicht nur ums Fotografieren, sondern auch darum, dass die Besucher des vom 6. bis 8. Juli stattfindenden Neuköllner Kultur-Marathons sich selbst, Freunde oder Nachbarn wiedererkennen und neue Perspektiven auf vertraute Orte entdecken.

Ensa Maurer

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