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Berlin: Neukölln im Blut

Annemarie Mußwick ist 100 Jahre alt 99 davon hat sie in derselben Wohnung gelebt

Annemarie Mußwick öffnet selbst die Tür. Zwei hellwache Augen blicken kritisch durch den Spalt, dann nimmt sie die Kette weg und bittet den Besucher hinein. Im großen Zimmer: Couch, Anrichte mit Gläsern, Gemälde mit Blumen – eigentlich keine außergewöhnliche Wohnung. Für Annemarie Mußwick allerdings ist sie die Welt. Während um sie herum die Berliner ständig am Umziehen sind, hat die Neuköllnerin, die an diesem Dienstag 100 Jahre alt wird, fast ihr ganzes Leben in diesen dreieinhalb Zimmern an der Hasenheide gewohnt. Nur geboren wurde sie woanders, aber nicht weit weg: fünf Häuser weiter Richtung Hermannplatz. Als sie ein Jahr alt war, zogen ihre Eltern hierher.

Wie kann man so lange in derselben Wohnung bleiben? Hat sie nie den Drang nach einem Tapetenwechsel verspürt? „Nein“, sagt Annemarie Mußwick, „diese Wohnung war immer Heimat für mich. Ich mag ihre Helle und Weite.“ Ein bisschen zerbrechlich wirkt sie schon, während sie erzählt, gleichzeitig aber auch robust und entschlossen, eine typische Berliner Mischung. Ihre Kleidung (Rock, Bluse, weiße Strickjacke) verrät, dass sie einer Generation entstammt, die noch wusste, wie man sich elegant anzieht – bevor die Jogging- und Nordpolarjacken-Ästhetik heutiger „Best Agers“ Einzug hielt. Dass sie trotzdem mit der Zeit geht, ist dazu kein Widerspruch. Sie hat einen eigenen Laptop („von Dell!“), mit dem sie ihre E-Mails beantwortet.

Das muss man sich mal vorstellen: Als Annemarie Mußwick geboren wurde, gab es noch kein Neukölln. Auf der Geburtsurkunde steht „Rixdorf (Teltow)“, eine Stadt, die erst 1920 nach Berlin eingemeindet wurde. Ihr Vater war Barmixer in „Mampes guter Stube“ am Kurfürstendamm, das Lokal, in dem Joseph Roth 1932 seinen Roman „Radetzkymarsch“ geschrieben hat. Sie kannte noch das alte Karstadt am Hermannplatz und schwärmt von der Dachterrasse, auf der man so wunderbar Kuchen essen konnte. Viele Beamte hätte man damals auf den Straßen Neuköllns gesehen, und – heute ebenfalls unvorstellbar – viele Offiziere. An die Revolution von 1918 erinnert sie sich, weil ihre Mutter sie in der „Neuen Welt“, dem Neuköllner Vergnügungspark, an eine Wand drückte, um sie vor Kugeln zu schützen. Später erlebte sie mit, wie das alte Kaufhaus am Hermannplatz von der SS gesprengt und danach geplündert wurde. Nach dem Krieg arbeitete sie bis zur Pensionierung in der Finanzverwaltung als Sekretärin.

Von Neukölln, wie es vor dem Krieg war, schwärmt sie heute noch: „An der Hasenheide gab es einen Musikgarten mit Kapelle nach dem anderen. Wenn ein Orchester aufhörte, fing das nächste an. Man konnte richtig flanieren!“ Das sei vorbei. Nein, das heutige Neukölln ist nicht mehr ihres, dreckig ist es geworden, sagt sie, und die Dealer im Park stören sie sehr. Trotzdem besucht sie noch gerne das Kleintiergehege hinter ihrem Haus. Ehemann und Kinder hat Annemarie Mußwick nie gehabt, aber ihre jüngere Schwester Elisabeth lebt mit ihr in der Wohnung. Noch immer geht sie selbst einkaufen. Am Deutschen Herzzentrum wurde ihr eine neue Herzklappe eingesetzt – eine Operation, die in ihrem Alter früher undenkbar gewesen wäre. Jetzt steigt sie wieder alleine die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch. Um dann unter anderem den Tagesspiegel zu lesen, dem sie seit 60 Jahren treu ist.

Den Geburtstag verbringt sie mit der Familie ihrer Schwester und den Hausbewohnern, mit denen sie sich sehr gut versteht, obwohl sie, im Vergleich zu ihr, ständig wechseln. Einer will sogar ein Ständchen spielen. Sie wollen feiern, bis sie müde wird. „Und dann ist Feierabend“, sagt sie und lächelt. Udo Badelt

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