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Berlin: Nicht nur sauber, sondern rein

500 000 Menschen werden jedes Jahr im Krankenhaus krank. Sie infizieren sich mit Viren – auch weil sich viele Ärzte nicht richtig reinigen. Ein Besuch bei Henning Rüden, dem Klinik-Hygieniker der Charité

Der Saubermann fährt mit der Hand über einen Lampenschirm in seinem Büro und schaut auf den Finger. Ziemlich grau. „Das ist nicht tragisch, das hat nichts mit Hygiene zu tun“, sagt er. Aha. Sauberkeit und Hygiene – im Krankenhaus ist das also nicht das Gleiche.

Der Saubermann heißt Henning Rüden, ist sehr groß, sehr dünn und 62 Jahre alt. Rüden ist einer der bekanntesten Klinikhygieniker Deutschlands. Er ist Chef des Nationalen Referenzzentrums zur Überwachung von Klinikinfektionen. Außerdem ist er Chefhygieniker der Charité. Sein Feind ist nicht der Staub. Seine Feinde sind die Bakterien.

Fast täglich läuft Henning Rüden über die Flure der Charité-Kliniken in Mitte, Wedding, Steglitz und Buch. Er und sein Geschwader, zehn Hygiene-Schwestern, inspizieren Patientenzimmer, Operationssäle, Behandlungsräume, immer auf der Suche nach Schwachstellen an der Keimfront. Überall genug Behälter für die Händedesinfektion? Irgendwo angebrochene Fläschchen mit Kochsalzlösung? Die gehören in den Müll, weil sich da schnell Krankheitserreger einnisten.

Die Ansteckung mit Keimen im Krankenhaus – der Fachbegriff lautet nosokomiale Infektionen – ist ein Riesenproblem. Jedes Jahr infizieren sich in den rund 2200 deutschen Kliniken eine halbe Million Menschen mit gefährlichen Bakterien oder Viren: 3,5 Prozent aller Patienten. Sie bekommen Entzündungen, Blutvergiftungen oder Lungenkrankheiten durch bakterienbesiedelte Katheter oder Wunddrainagen oder andere kontaminierte Gerätschaften. 5000 bis 10 000 Menschen sterben sogar daran, sagen Fachleute. Zehntausende weitere müssen länger im Krankenhaus bleiben oder quälen sich über Jahre mit den Folgen.

Meistens sind es ausgerechnet die Ärzte und Pfleger, die die Mikroben von einem Patienten auf den anderen übertragen. Ist der Anfang erst gemacht, ziehen die Bakterien unsichtbar für das menschliche Auge wie Seuchen durch ein Krankenhaus. Deshalb erinnert der Hygieniker seine Kollegen ständig an eigentlich Selbstverständliches. Manchmal fühlt Henning Rüden sich wie ein Prediger, der immer wieder dieselben Gebete aufsagen muss: Hände desinfizieren. Er ist eine Nervensäge, sicher, aber: „Wir wollen keine Hygienepolizei sein, sondern Dienstleister für das Klinikpersonal, die nützliche Hinweise haben“, sagt Rüden.

Überall im Klinikum hängen bunte Plakate, die das Personal daran erinnern, sich die Hände zu desinfizieren. Rüdens Team hat sie gemacht, kopiert und aufgehängt. Sie haben die Kollegen beobachtet, mal offiziell, mal verdeckt – und festgestellt: Gerade mal 55 Prozent der Ärzte und Schwestern desinfizieren so oft und regelmäßig ihre Hände, wie es notwendig wäre; ihre Zeit ist zu knapp geworden, die Personaldecke in Krankenhäusern oft zu dünn.

Ärzte und Schwestern haben die Wahl unter vielen Möglichkeiten, sich zu reinigen, wobei allerdings nicht alle sinnvoll sind. Die Bürsten an den OP-Waschbecken zum Beispiel, die würde Henning Rüden am liebsten sofort wegschmeißen. „Beim Schrubben raut man sich die Haut an Hand und Unterarm auf“, sagt er. Die Folge: Bei der anschließenden Desinfektion brennt der Alkohol, und deshalb nehmen „manche Ärzte zu wenig“. Andere wiederum vergessen immer wieder, dass sie sich nicht desinfizieren sollen, so lange die Hände noch nass sind, weil das Waschwasser den fast reinen Desinfektionsalkohol auf Likörstärke verdünnt. Einige Keime überleben das. Allerdings werde es „ein Nullinfektionsrisiko im Krankenhaus niemals geben“, sagt Rüden. „Selbst wenn wir die Händewasch-Marke auf 100 Prozent anheben könnten, würde die Infektionsrate auch ,nur’ von 3,5 Prozent auf zwei Prozent sinken.“ Anders: Statt 500 000 würden sich nur rund 330 000 Menschen infizieren.

Keime sind überall. In den allermeisten Fällen werden die gefährlichen Erreger von Patienten ins Krankenhaus eingeschleppt. Andere gehören zur normalen Umgebung – auch die, die sich später so rasant vermehren und Menschen sterbenskrank machen, sind zuerst nicht unbedingt gefährlich und aus einem Krankenhaus auch grundsätzlich nicht wegzudenken. Sie gehören nur unter Kontrolle, sagen die Experten. Gefährlich werden sie erst, wenn das Immunsystem geschwächt ist, vor allem bei Patienten auf der Intensivstation.

Und es kann schnell gehen mit der Infektion. Rüden gibt ein Beispiel: zwei Intensiv-Patienten in einem Zimmer. Trägt der eine Erreger an sich, dann könnten die Pfleger die auf die Hand bekommen. Vielleicht piept in diesem Augenblick ein Alarm am Überwachungscomputer des anderen Patienten. Der Alarm wird abgestellt – und die Keime sitzen auf dem Bedienfeld. Langt jetzt ein Pfleger wieder hin und berührt danach den anderen Patienten, ist der Erreger übertragen. Es ist wie stille Post, nur mit Bakterien, nicht mit Worten. Deshalb müssen Tastaturen, Monitore, einfach alle Gerätschaften regelmäßig desinfiziert werden.

Die widerwärtigste Klinik-Mikrobe ist der Staphylococcus Aureus. Sie überlebt fast jedes Antibiotikum. Die einzige Gegenstrategie ist Isolation. Dann hängen Rüden und die Kollegen Zettel an Zimmertüren mit vielen Ausrufezeichen – „Isolation!! Kittel! Handschuhe! Händedesinfektion beim Verlassen!“ – und stellen kleine Wägelchen davor mit Einmalgummihandschuhen, Kitteln und Desinfektionsmitteln. Gefährlich sind in Krankenhäusern aber auch die so genannten Legionellen, die sich im Wasser vermehren und bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem eine lebensgefährliche Lungenentzündung auslösen können. In der Teeküche der Intensivstation zum Beispiel hängt ein Spezialfilter unter dem Wasserhahn. Der Filter sieht aus wie eine umgedrehte blaue Plastiktasse. Mit Filzstift ist ein Datum draufgekritzelt. Zwei Wochen ist der Filter haltbar. Dann muss ein neuer her – Kosten: 18 Euro das Stück. Das kann sich das Klinikum nicht für jeden der 6000 Wasserhähne in den Charité-Gebäuden leisten. Die Filter würden im Jahr 2,5 Millionen Euro kosten.

Die billigste Lösung ist: Hören Sie auf Ihren Hygieniker. Die teuerste Konsequenz: ein Prozess. Denn Infektionen wegen mangelnder Hygiene im Krankenhaus gelten als Kunstfehler. Einer der letzten großen Prozesse, in den eine Klinik in Gießen verwickelt war, brachte den Klägern 250 000 Euro Schadenersatz und eine monatliche Rente ein. Ein neugeborenes Mädchen war dort mit Krankenhauskeimen infiziert worden. Es ist seitdem schwerbehindert.

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