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Berlin: Nicole Reinhard-Chappaz (Geb. 1944)

Nichts gelernt und doch so viel geworden.

Guten Tag Nicole“ – „Ah, bonjour Madame. Was kann ich tun heute für sie?“ – „Ich hätte gern ein Glas Moutarde de Dijon, eine Flasche Château la Rouvière und eine schöne Tasse Kaffee.“ – „Sehr gern Madame, sofort ich bringe ihnen den Kaffee.“ Madame setzt sich zufrieden an ein hochbeiniges Tischchen, Nicole Reinhard bereitet den Kaffee, über das Zischen der Maschine hinweg plaudern die Frauen weiter. Nicole sagt nicht isch und misch und natürlisch, sie verdreht nur ein wenig die Stellung der Worte. Grammatische Regeln zu lernen ist ermüdend und eintönig. Und außerdem finden die Leute, dieser leichte Akzent habe Charme.

Man betritt das La Provence in der Grolmanstraße und wird bedient von einer Provenzalin, die französische Weine und Delikatessen verkauft, zu Zeiten, in denen jeder Nudeln isst und Prosecco trinkt. Nicole hat Regale, Tische und Hocker selbst entworfen, am oberen Rahmen eines Durchgangs ragt die nachgebildete Pont d’Avignon, auf dem Boden stehen Körbe, gefüllt mit spécialités de France, auf den Tischen getrocknete Lavendelsträuße. Es ist verblüffend, wie sie arrangiert, gestaltet, mit einem unfehlbaren Gefühl für Farben und Materialien, ohne das Handwerk auf üblichem Bildungsweg erlernt, ohne jemals eine Ausbildung erhalten zu haben.

Denn früh sterben die Eltern, an Krebs, erst die Mutter, ein knappes Jahr später der Vater. 18 ist Nicole, verlässt die Schule kurz vor dem Abitur, kümmert sich um die jüngeren Geschwister. Wäre gern Innenarchitektin geworden. Heiratet stattdessen Monsieur Culo, einen Friseur, bekommt Kinder. Ihrem Mann bietet man an, in Berlin, im Frisiersalon des Hilton zu arbeiten. Nicole zieht mit, aus der Provinz in die fremde große Stadt, verlässt den Mann schnell, wäscht hier einen Kopf, fegt da Haare zusammen, zumeist in Weddinger Läden, die Damen dort sind die Ehefrauen französischer Alliierter. Bald darf sie auch Nägel feilen und blasse Wangen mit Rouge bestäuben. Heiratet 1977 ein zweites Mal, dekoriert die geräumige Altbauwohnung in Steglitz selbst, bespannt die Wände mit Seide, malt den Stuck an der Decke goldbronzen aus. Arbeitet als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung bei Hertie Neukölln, dann in der Wilmersdorfer, dann im KaDeWe. Stellt sich so geschickt an, dass Lancaster sie abwirbt, sie schließlich bis zur Gebietsverkaufsleiterin für Berlin und Brandenburg aufsteigt. Nichts gelernt und doch so viel geworden, eine erstaunliche Karriere, die endet, weil Lancaster 1993 von einem mächtigen Chemiekonzern übernommen, die Hälfte des Managements entlassen wird. Und die Ehe scheitert.

Jedoch im Herbst 1993 bereits eröffnet Nicole das La Provence, einen lang gehegten Traum, schließt eigentlich abends um sieben, um acht, um neun. Dessen ungeachtet, sitzen die Stammgäste, häufig Schauspieler, weiter im Laden, schwatzen, lassen sich noch ein Glas von Nicole bringen, vor allem Klaus Löwitsch, der sich, wie die anderen belustigt bemerken, gepflegt volllaufen lässt. Eine winzige Merkwürdigkeit gibt es an Nicole. Die Weinkennerin bevorzugt im Grunde Bier. Ein kurioser Anblick: Die feingliedrige elegante Französin, die so aussieht, wie die übrigen Frauen gern aussehen wollen, hält ein schweres Bierglas in der Hand.

1998 geht es nicht weiter. Das Gespenst ihrer Jugend, die Krankheit der Eltern, kehrt zurück. Merci Maman, merci Papa, sagt sie ironisch, traurig. Schreibt wieder Chappaz, ihren Mädchennamen, auf das Klingelschild. Malt, läuft durch Berlin, fährt nach Potsdam, bringt Zweitklässlern Französisch bei, organisiert Kochkurse für Kinder, widersetzt sich der tödlichen Krankheit, mehr als zehn Jahre, ist eines Tages erschöpft. Tatjana Wulfert

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