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© Kleist-Heinrich

Nollendorfplatz: Der Eismann

Stadt-Eskimo: Zuerst sollte es nur ein Schneemann sein, dann schaufelte der obdachlose Horst einfach weiter - und es wurde ein Iglu. Nun hat der 53-Jährige am Nollendorfplatz ein kaltes Dach über dem Kopf.

„Zaungäste sind Stress“, sagt Horst, der sich an der U-Bahn-Haltestelle Nollendorfplatz ein Iglu gebaut hat. Wie ein Marktschreier steht er auf der eisglatten Plattform seines Kunstwerks, wippt vor und zurück und hält sich sein voll aufgedrehtes Radio ans Ohr.

Horst ist obdachlos. Eigentlich wollte der 53-Jährige „nur aus Gag“ einen Schneemann bauen, dann sei ihm die Idee mit dem Iglu gekommen. Direkt vor dem Ausgang des U-Bahnhofs türmt sich jetzt seine zwei Meter hohe und vier Meter breite Unterkunft. Den Innenraum des festgefrorenen Schneeberges hat er in tagelanger Arbeit mit einer Schaufel ausgehöhlt. Das Dach ziert ein mit Tannenzweigen, Flaschen und Tuchfetzen geschmückter Einkaufswagen. Zwei Stockwerke hat das Stadtiglu mit dem leicht ovalem Eingang und dem glatt geschliffenen, treppenartigen Vorbau. Im tiefer gelegenen Innenraum hat Horst einen vereisten Kinderwagen gelagert. Als nächstes will er einen Notausgang bauen – einfach nur so. „Das muss aber noch warten, da mir gestern Nacht die Schaufel geklaut wurde.“

Horst ist angetrunken, sein Gesicht rot von der Kälte. Lässig zieht er an der Zigarette und kippt einen Schluck Rum in sich hinein. Der Iglubauer lacht viel und sagt, dass er manchmal Bauchschmerzen davon bekommt. Der Mann mit dem frechen Grinsen und den Knallersprüchen hat Charme.

Ein Rocker ohne Vorderzähne mit rasiertem Punk-Haarschnitt, in grauer, enger Lederhose und dicken schwarzen Lederboots. Seine Militärjacke trägt er offen, darunter ein Holzfäller-Karohemd. Wenn Horst auf seiner Eisburg steht, ist er weder zu übersehen noch zu überhören. Vor allem, wenn er Mundharmonika spielt oder plötzlich lauter wird: „Ich schreie, damit die Leute zittern. Eine Rock-’n’-Roll-Fantasie“, sagt er und lacht. Und Horst verteilt Küsschen – zum Beispiel an die ältere Dame, die ihm ein paar Cent in sein Glas geworfen hat.

Einmal täglich kommt Ulrich vorbei, um mit Horst eine Zigarette zu rauchen. „Was der für eine Energie hat“, sagt der Obdachlosenzeitungsverkäufer. Und plötzlich werden es immer mehr Kumpels, die sich um Horst scharen. Sie reden durcheinander und erzählen wilde Geschichten. Irgendwann wird es zu eng. „Ich brauche Platz, ich will da nicht reingeschubst werden“, tönt Horst.

„Der ist nicht nur niedlich“, mault eine BVG-Angestellte in die Runde der Schaulustigen. „Der geht mit seiner Schippe auf Leute los, wenn er besoffen ist.“ Am Nachmittag käme öfter mal die Polizei vorbei und erteile ihm Platzverbot, doch am nächsten Tag sei er wieder da. Der zuständige Kontaktbereichsbeamte, der seinen Namen nicht nennen will und Horst heute nach seinem zweiwöchigen Urlaub besucht, sieht es gelassen. „Er ist der Polizei bekannt, aber harmlos. Nur manchmal müssen wir ihn anschnauzen.“

In seinem Iglu verbringt Horst seine Tage, nachts schläft er in der Notunterkunft. Seit sieben Jahren lebt der Mann aus einem Vorort von Schwerin auf der Straße. Er sagt, dass er während des Entzugs in einer Klinik ausgebüxt sei. „Ich habe immer gesagt, wenn ich weg bin, bin ich weg.“ Am Freitag will Horst mit seinem Kumpel Gerd zum ersten Mal im Iglu übernachten. Dann wollen sie gemeinsam Gitarre und Mundharmonika spielen. Hadija Haruna

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