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Notstand Kinderbetreuung: Eltern zum Anfassen

Es gibt zu wenig Betreuungsplätze für Kinder in Deutschland. Drei Mütter in Köpenick denken: Lasst uns selbst eine Kita aufmachen! Da ahnen sie noch nicht, worauf sie sich einlassen.

Von Julia Prosinger

Nach und nach treten sie ein, junge Paare mit Säuglingen auf dem Arm, Mütter mit Kleinkindern an der Hand, Großväter mit Enkeln auf dem Rücken. Schauen sich um in dem großen kahlen Raum, stoßen an Klötze mit gelbem Dämmmaterial, lehnen sich an raue Betonwände.

„Alles, was wir tun konnten, haben wir getan. Der Rest hängt leider von Menschen ab, die wir nicht befehligen können“, sagt eine Frau mit langem grau-blondem Haar. Sie steht in der Mitte des Raumes, vor ihr ein Tapeziertisch, darauf Lebkuchen, Spekulatius und Thermoskannen mit Kaffee. Es ist kurz vor Weihnachten 2012. Danuta Szkibik zeigt die Räume, in denen bald, hoffentlich sehr bald, die Kindertagesstätte „Rabenkinder“ eröffnen soll. Im Moment ist das hier noch eine Baustelle, ohne Decken, ohne Böden. Szkibik will heute Eltern finden, die aus der Baustelle eine Kita machen, also ihren Kindern selbst einen Platz schaffen.

Sie wären damit eine von mehr als 2100 Kindertagesstätten, selbst verwaltete Kinderläden wie ihrer machen zehn Prozent des Berliner Betreuungsangebots aus. Seit mehr als 40 Jahren gibt es sie, Eltern dürfen wählen, ob ihre Kinder von kommunalen, kirchlichen oder eben freien Trägern betreut werden.

Wie auch immer sie sich entscheiden: Es gibt viel zu wenig Plätze. Allein Berlin muss bis 2017 laut Schätzungen 19 000 schaffen, deutschlandweit braucht es etwa 780 000. Ab 1. August haben Eltern Anspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben. Bislang gab es den erst nach dem dritten Geburtstag. Das bedeutet, immer weniger Plätze für immer mehr Kinder.

Das gilt auch für Köpenick, wo Danuta Szkibiks vierjähriger Sohn Enno jetzt durch den Flur springt, dabei ein erfundenes Lied trällert, einem Baby im rosa Schneeanzug auf die Nase tippt und Eltern verzweifelt fragen: Wie wahrscheinlich ist es, dass wir einen Platz bekommen?

Auch Enno braucht einen Platz, weil die Stadt nicht genügend geeignete anbietet. Seine Mutter und zwei Freundinnen hatten deshalb die vernünftige Idee, lasst uns selbst eine Kita gründen. Sie wussten, dass so etwas kompliziert ist. Über ein Jahr ist es her, dass sie diese Entscheidung trafen. Danuta Szkibik, 37, vier eigene Kinder, drei des Mannes, „mit dem Haushalt komme ich kaum hinterher“, Dörte Metke, ein Sohn, Zusatzausbildung zur Montessori-Pädagogin, und Lara Wintzer, 30, bekommt das zweite Kind, schickten einen Brief an die Kitaaufsicht des Senats. Den Brief öffnet Frau Huth.

Petra Huth, 57, ist zuständig für mehr als 200 Kitas in Treptow-Köpenick und Neukölln. Jeden Tag bekommt sie solche Briefe, in der Hälfte der Fälle, schätzt sie, wird nichts draus. Am 20. Februar lernen die Gründerfrauen Frau Huth kennen. Die sitzt in einem hässlichen Gebäude am Alexanderplatz, neigt den Kopf zur Seite und betrachtet die Frauen. 17 Jahre hat sie selbst als Erzieherin gearbeitet. Dann beginnt sie mit singendem Tonfall zu fragen. Klingt sanft, täuscht aber.

„Die hat uns zerpflückt“, sagt Dörte Metke. „Quatsch, die wollte doch nur wissen, ob wir bekloppt sind. Jetzt ist sie unsere Freundin“, sagt Szkibik.

"Was soll dieser Absatz mit der Stilleübung?"

Die Frauen haben einen Verein gegründet und Gemeinnützigkeit angemeldet, sie sind darauf vorbereitet, verschiedene Ämter überzeugen zu müssen. Gesundheitsamt, Bauaufsicht, Lebensmittelaufsicht. In dem Konzept der „Rabenkinder“ steht, dass die Kita von 7–17 Uhr geöffnet hat. Dass die Eltern 20 Stunden im Jahr Wäsche waschen oder putzen müssen.

„Was soll dieser Absatz mit der Stilleübung?“, fragt Frau Huth.

Dörte Metke erklärt den Montessori-Ansatz: Die Erzieher sollen den Kindern möglichst wenig vorgeben, nur anwesend sein, viel Ruhe geben. Frau Huth versteht.

Jetzt kommt der Teil, an dem die meisten Eltern scheitern. Die Köpenicker Frauen müssen geeignete Räume finden. 20 Kinder wollen sie unterbringen, von drei bis sechs Jahren. Das bedeutet, dass sie vier Quadratmeter pro Kind brauchen, Küche und Toiletten nicht mit eingerechnet. Der Raum, den sie finden, liegt nur wenige Meter von Danuta Szkibiks Wohnung entfernt, am Mandrellaplatz. Als Frau Huth im März 2012 zu Besuch kommt, um die Räume zu beurteilen, neigt sie den Kopf. „Nicht ideal.“

Gut, weil die Räume im Erdgeschoss liegen und die Decken höher als 2,30 Meter sind. Das ist wichtig, weil es sonst zu laut für die Erzieher wird, Arbeitsschutzrecht. Es ist auch Platz für eine Erziehertoilette, es gibt Fluchtwege. Schlecht, weil man, um in die anderen Räume zu gelangen, immer durch den einen großen durch muss, in dem die Kinder spielen sollen. Schlecht, weil sie sich dadurch stören.

Wie viele Ruhephasen sieht der Tagesablauf vor? Wie wollen sie alles einrichten? Dörte Metke erklärt. Was sie als Erzieherin in Kinderläden falsch fand, will sie jetzt richtig machen. Nach zwei Stunden stimmt Frau Huth den Räumen vorläufig zu. „Aber mit gefühlt einer Million Auflagen und Umbauvorschlägen“, erzählt Danuta Szkibik.

Die drei Mütter müssen sich jetzt auch entscheiden, wie sie den Umbau finanzieren. Sie könnten einen Kredit aufnehmen, zu guten Konditionen, weil der Bund das fördert. Dazu müsste aber jedes Elternteil für 3000 Euro bürgen. „Wer macht das schon für zehn Jahre, wenn sein Kind nur fünf hierher geht?“, fragt Szkibik. Als Verein können sie auch Spenden annehmen, doch wer spendet schon für eine Kita? Sie brauchen also Fördergelder für den Umbau.

„Wir haben immer Vollgas gegeben, wir sind so. Wenn ein paar Wochen nichts passiert, drehen wir durch“, sagt Danuta Szkibik. Sie drehen einen Frühsommer lang durch, Berliner Haushaltssperre. Fördergelder sind versprochen, aber noch gibt es keine Anträge.

Wenn die Kita erst läuft, bezahlt Berlin 93 Prozent. Den Rest übernehmen die Eltern mit einem Fixanteil von monatlich 23 Euro und einkommensabhängigen Beiträgen. Was noch fehlt, gleichen die Kitas durch ehrenamtliche Arbeit aus, verwalten sich selbst, waschen selbst. Dazu muss die Kita aber klein bleiben.

Am 12. Juli 2012 unterschreiben die „Rabenkinder“-Frauen den Mietvertrag, sie verpflichten sich für zehn Jahre, das verlangt der Senat. Es ist ihnen unwohl dabei, denn, wenn sie keine Fördergelder bekommen, nicht umbauen könnten, sitzen sie auf dem Vertrag. Ihr Verein müsste Insolvenz anmelden.

„Das schafft doch höchstens einer von zehn“, stöhnt Dörte Metke, als sie im August das dicke Antragswerk fürs Kitaplatzausbauprogramm des Landes erhalten. In manchen Nächten sitzt Danuta Szkibik nun bis drei Uhr. Wenn sie ins Bett geht, denkt sie daran, dass sie morgens gleich den Architekten anrufen und dass sie Elternkredite organisieren muss, um fünf Prozent der Antragssumme selbst aufzubringen.

Es hilft, dass Danuta Szkibik mal BWL studiert hat und bei ihren Freundinnen als „blitzgescheit“ gilt. Es hilft auch der Daks, der Dachverband für Kinder- und Schülerläden in Berlin, ein Lobbyverband. Dort sitzt dann einer wie Roland Kern, der Eltern so lange umsonst berät, bis sie erfolgreiche Gründer sind. Denn es ist kompliziert.

Kern, 43, Lockenkopf, Kapuzenpulli, spricht an einem großen Holztisch vom „Dschungel“. „Jede Vorschrift macht für sich genommen Sinn, im Zusammenspiel wird’s verrückt.“ Beispielsweise, wenn die Küche für 20 Kinder so ausgestattet sein soll wie die eines Spitzenrestaurants. „Das System wartet nicht unbedingt auf Eltern, die eine Kita gründen“, sagt er. Es wurde für große Einrichtungen gemacht. „Es ist eine gesellschaftsphilosophische Frage“, sagt Kern. „Wie viel Risiko halten wir aus? Können wir damit leben, wenn einem Kind etwas zustößt?“

Mit Kerns Hilfe reichen die Köpenicker Frauen den Antrag ein. Jetzt müssen sie warten. Danuta Szkibik verwaltet die Mails. Eine erreicht sie am 28. August um 9.14 Uhr. Eine Mitarbeiterin bittet um Stellungnahme zu ein paar Aspekten ihres Antrags. Nur knapp sechs Stunden später hat Szkibik alle Fragen beantwortet. Per Mail. Einen Brief schickt sie auch.

Die drei Frauen in Köpenick warten weiter. Dörte Metke sitzt über Katalogen, vergleicht Preise. Sie sucht schwer entflammbare Teppiche aus, feuerfeste Vorhänge, alles zertifiziert. In den Wochen des Wartens suchen sie auch nach Personal und finden, glücklich, sogar einen der wenigen Männer. Eine Frau sagt auch zu, das Dreierteam mit Dörte Metke scheint komplett.

Gut, denn es gibt nicht nur viel zu wenig Kitaplätze, sondern auch viel zu wenig Erzieher.

Auf der Baustelle reißen die Frauen Toilettenwände raus, schlagen Kacheln ab. In der Küche lassen sie eine Belüftungsanlage bauen, das muss sein, wegen des Kondenswassers beim Teekochen. Sagt das Gesundheitsamt und fordert noch eine verschließbare Durchreiche. Von den Eltern, die bislang zugesagt haben, helfen immer nur die Gleichen. Dörte Metkes Kreuz schmerzt, sie muss eine Korsage tragen. Das Arbeitsamt setzt sie unter Druck, weil sie sich arbeitslos gemeldet hat, während sie die Kita gründet. Bald wird sie angestellte Erzieherin des Vereins sein.

Von ihren Fördergeldern hören die Gründerfrauen nichts. Inzwischen springen erste Eltern ab, sie brauchen den Platz dringend. Die Gründerfrauen können das gut verstehen.

Im Oktober 2012 rufen sie ungeduldig beim Senat an. Abgelehnt, ihr Antrag sei abgelehnt, erfahren sie dort.

Obwohl sie Bedarfskategorie 1 sind? Obwohl Danuta Szkibik die Fragen in nur sechs Stunden beantwortet hat? Obwohl sie so bescheiden, wie Roland Kern vom Daks es riet, nur 2000 Euro pro Platz und nicht 7000 gefordert haben? Berlin vergibt die Gelder nach Wirtschaftlichkeit. Die Kitas, die die günstigsten Plätze schaffen, bekommen den Zuschlag. Waren andere besser?

Sie denken jetzt noch mal über den Kredit nach und kurz, nur kurz, übers Aufgeben. Bange Tage. Sie rufen Roland Kern an. Er war schließlich dabei, als die Regularien für das Programm ausgehandelt wurden. „Ich habe dann ein paar Telefonnummern gewählt, ein bisschen Bürokratendeutsch gesprochen und festgestellt, dass der Senat Danuta Szkibiks prompte E-Mail und den Brief verloren hatte.“

„Roland, ick liebe dich“, sagt Danuta Szkibik, am 1. November 2012. Endlich, die Zusage, 40 760 Euro.

Es wird wieder Winter. Die Frauen hoffen, dass sie bald eröffnen können. Von dem Glücksgriff, dem männlichen Erzieher haben sie lange nichts gehört. Auch der Architekt ist verschwunden. Danuta Szkibik ist jetzt Bauleiterin. „Dabei weiß ich nicht einmal, ob erst die Fliesen verlegt werden und dann der Estrich oder andersherum“, sagt sie. Die Frauen haben alle Verträge vorbereitet für den Essensanbieter, die Versicherungen, die Anmeldung zur Unfallkasse, zur Berufsgenossenschaft. Sie liegen da und warten nur darauf, abgeschickt zu werden.

Dann passiert, was Danuta Szkibik ihren „persönlichen Flughafen“ nennt. Die Bauaufsicht schreibt, „Rabenkinder“ müsse sein Brandschutzkonzept überarbeiten. Es brauche neue Decken, die 90 Minuten einem Feuer standhalten. Was sie bislang gemalert und tapeziert hatten, muss runter.

Die Eltern mit den Säuglingen und Kleinkindern fragen nicht, wie sie helfen können. Sie fragen nur: „Wann macht ihr endlich auf?“ Die Gründerfrauen fragen sich, ob sie die Richtigen für ihr Projekt sind.

Februar 2013: Täglich kommen jetzt zwei neue Anfragen. Es gibt einen richtigen Bauleiter. Im Mai 2013, sagt der, soll alles fertig sein, dann brauchen sie nur noch die Betriebsgenehmigung. Dann wird Frau Huth kommen, vielleicht mit anderen Amtsleuten, vielleicht allein. Sie wird den Kopf schräg legen und hoffentlich das eine Wort sagen. Ja.

Dieser Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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